Aus dem Schatten meines Borderliners. Betty Paessler
Menschen auf einem Ackergaul und die PatientInnen mit Borderline-Störung auf einem Araberhengst. Er geht schnell durch, ist schwer zu kontrollieren und nur langsam zu bremsen. Reiten lernen müssen alle Menschen, aber Borderline-Patienten müssen Spitzenreiter werden, die täglich am Training teilnehmen müssen.“
Menschen, die an einer Borderline-Persön-lichkeitsstörung leiden, fühlen sich innerlich zerrissen, haben ein gestörtes Selbstbild und eine gestörte Körperwahrnehmung.
Ich hatte schon immer Probleme damit, meine Gefühle zu steuern. So etwas benennt die Psychologie als 'Störung der Affektregulation'. Neben den Anspannungszuständen zeigt sich die gestörte Affektregulation in Form von Gefühlen innerer Leere oder einer vollständig fehlenden Gefühlswahrnehmung bis hin zu fehlendem Schmerzempfinden.
Es kam bei mir immer wieder zum Auftreten mehrerer, sich widersprechender Emotionen gleichzeitig. So spürte ich Freude und Wut oder Ekel und Erregung nahezu gleichzeitig. Ich litt fast mein ganzes Leben unter Stimmungsschwankungen, impulsiven Gefühlsausbrüchen, Schwarz-Weiß-Denken, Katastrophieren, starker Verzweiflung, Verlustängsten und Ohnmachtsgefühlen.
Oft handelte ich aus einer Situation heraus, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Nicht selten kam es dann auch vor, dass mir speiübel wurde, sobald das klare Denken wieder einsetzte. Handlungen aus dem Gefühl heraus gehörten fast schon zur Tagesordnung. Auch das Handeln nach den angenommenen Gefühlen und Gedanken anderer gehörte zu mir und führte oftmals dazu, dass mein Gegenüber völlig überfordert mit mir war. In den seltensten Fällen konnte ich das auch für mich selbst erkennen. Für mich waren meine Gefühle, Gedanken und Handlungen selbstverständlich. Ich dachte, das ergeht jedem so.
Da die Borderline Persönlichkeitsstörung vor allem die Gefühlswelt, also das emotionale Empfinden beeinflusst, ist eine Ausprägung in fast allen Lebensbereichen zu spüren. Durch das leicht aggressive und gereizte Verhalten gegenüber anderen ist es äußerst schwierig Betroffene mit Kritik zu konfrontieren, da sie damit meist nur sehr schwer umgehen können. Durch die starken Stimmungsschwankungen und die Überempfindlichkeit ist es für das Umfeld meist schwer einzuordnen, wie es dem Betroffenen wirklich geht. Es kann schnell zu Missverständnissen kommen, da Menschen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung sich oft ungerecht behandelt oder zurückgewiesen fühlen. Sie kommen mit der damit verbundenen, subjektiv empfundenen Enttäuschung nur schwer zurecht.
Eine Affektregulation ist auch die Unfähigkeit, innere gefühlsmäßige Zustände zu kontrollieren. Hierbei handelt es sich um hochgradige Spannungszustände, die ich oftmals als unerträglich empfand. Sie zwangen mich, wie wahrscheinlich jeden Borderliner, Strategien zu entwickeln, um diesen Zustand zu verändern oder ihm zu entkommen. 8 von 10 Borderlinern fügen sich Selbstverletzungen (im Folgenden als SV bezeichnet) bei, indem sie sich mit Messern oder Rasierklingen in die Haut schneiden. Einige fügen sich auch bewusst Verbrennungen zu. Aber auch Drogenkonsum oder gefährliche Verhaltensweisen, wie beispielsweise das Rasen mit dem Auto oder dem Balancieren auf Geländern werden zum Spannungsabbau eingesetzt. Auch das harte Schlagen mit den Händen oder dem Kopf gegen eine Wand oder auch das Treten gegen Gegenstände können Teil der SV sein. Während meiner Zeit in der Therapie habe ich bei fast jedem Teilnehmer andere Verhaltensmuster wahrgenommen, so dass einheitliche Verhaltensweisen oder -abläufe nicht festzustellen oder zu erkennen waren.
Was uns aber allen gemein war und ist, ist der tiefe Wunsch nach einem Zustand von Ruhe und Geborgenheit, so dass es zu diesen kurzfristig wirksamen Verhaltensmustern kommen kann. Das kann zur sogenannten 'negativen Verstärkung' führen. Denn die Wirkung dieser SV lässt mit der Zeit wieder nach und so kommt es zu einer verstärkten SV, um wieder eine befriedigende Wirkung zu erzielen.
Was ich an dieser Stelle aber ganz klar festhalten möchte: Es handelt sich dabei um keine Suizidversuche! Denn ein Suizidversuch birgt immer die gezielte Absicht, sich das Leben zu nehmen, während eine SV nur dem Spannungsabbau und der Selbstregulation dient. Da das für 'normale' Menschen sehr verstörend ist, beginnt für die Betroffenen ein Versteckspiel. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Ich selbst gehöre zu den wenigen Borderlinern, die sich nicht selbst in Form von tatsächlichen Verletzungen 'abreagieren', so dass ich nur aus sehr persönlichen Gesprächen mit Therapieteilnehmern berichten kann. Nur zu oft wurde mir gesagt, dass sich jeder hinter einer Maske verstecke; gleich einem Schauspieler. Funktionieren, so wie andere es von einem erwarten. Ebenso ist auch mein Empfinden.
Damit die Verletzungen an den Armen, egal welcher Art, nicht zu sehen sind, tragen Betroffene sogar im Sommer bei hohen Temperaturen lange Kleidung. Da die Scham über dieses Verhalten jedoch immens hoch ist und der Leidensdruck nur neues SV hervorrufen kann, werden sogar die Beine für die Verletzungen benutzt, weil diese Bereiche leichter zu verstecken sind.
Als Folge dieser intensiven Spannungszustände kann es zu einer stressabhängigen Reaktion kommen, die die Wahrnehmung des eigenen Körpers verzerrt oder gar auflöst, was man auch als 'Dissoziation' bezeichnet. Man empfindet dann keine Schmerzen mehr und sieht sich selbst wie in einem Nebel. Geräusche werden nur gedämpft wahrgenommen und es ist mir nicht nur einmal widerfahren, dass ich fast schon bewegungs- und handlungsunfähig war und mich wie gelähmt fühlte.
Es wurde auch davon berichtet, dass manche von ihnen optische Halluzinationen hatten. Ich selbst hörte manchmal Stimmen, so als hätte mich jemand gerufen oder mit mir gesprochen. Das hat aber rein gar nichts damit zu tun, dass ich Stimmen höre, die mir etwas 'befehlen' oder gar 'einreden' wollen. Ich bin mir jederzeit darüber im Klaren, dass es diese Stimmen in der Realität nicht gibt und so habe ich es auch immer vermieden, mit anderen darüber zu reden. Erst in der Therapie war es mir möglich, mit anderen Betroffenen über diese Dinge zu sprechen und war darüber erstaunt, dass es anderen genauso erging, wie mir. Dachte ich doch bis zum Beginn der Therapie, ich wäre allein mit meinen Problemen und niemand würde mich verstehen.
Doch gibt es neben diesen Spannungszuständen auch sehr intensive aversive (starke Ablehnung hervorrufende) Emotionen wie Schuld, Scham, Ohnmacht und Selbstverachtung. Dieses Gefühlschaos beeinflusst die zwischenmenschliche Interaktion und beeinträchtigt stark das Beziehungsleben. Eine zufriedenstellende Beziehung ist mit diesen Schwankungen im Selbstwertgefühl kaum möglich. Die Angst vor dem Verlassenwerden ist ein zentraler Aspekt im Borderliner-Dasein und kann ein existentielles Ausmaß annehmen. Häufig besteht ein Nebeneinander von Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe und eine starke Angst vor eben genau dieser sozialen Nähe. Die fehlende eigene Wertschätzung wird im intensiven Kontakt zum Partner gesucht. Demgegenüber steht die große Angst vor dem Alleinsein oder davor, verlassen zu werden. Meist scheitert es an den damit einhergehenden hohen Ansprüchen des Borderliners. Oftmals ist es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich der Borderliner zutiefst enttäuscht und manchmal auch verraten fühlt und den zuvor noch idealisierten Partner ablehnt und sich von ihm trennt. Dieses innerliche Zerrissen sein führt wiederum zu neuen Spannungszuständen, so dass ein fürchterlicher Teufelskreis entsteht, aus dem ein alleiniges Herauskommen den Borderlinern nur selten möglich ist.
Aufgrund der zuvor beschriebenen extremen Gefühls- und Stimmungsschwankungen scheitern oftmals partnerschaftliche Beziehungen, weil die jeweiligen Partner der Borderliner damit nicht zurechtkommen und schlichtweg überfordert sind. Aber auch am Arbeitsplatz können diese teilweise stark ausgeprägten Stimmungsschwankungen zu Irritationen führen, die sich nicht selten negativ auswirken und zwischenmenschliche Probleme zur Folge haben. Oftmals scheitert ein Borderliner daran, was mehrfache Arbeitgeberwechsel, wie in meinem Leben, erforderlich macht.
Experten diskutieren außerdem erhebliche Faktoren und Störungen im Gehirn als Ursache für die Erkrankung. Fehlfunktionen in bestimmten Hirnregionen, die für Gefühlskontrolle, Angst und Aggressionen zuständig sind, sind vermutlich mitverantwortlich für die emotionale Instabilität der Borderline-Patienten. Da wo ein “Normaler” noch nachdenkt und/oder reflektiert, hat ein Borderliner schon längst gedacht.
Für Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist das Leben gleich einer unkontrollierbaren Achterbahnfahrt, denn der Leidensdruck unter diesen Schwankungen ist extrem. Während gesunde Menschen immer mal wieder einen schlechten Tag haben, sich ärgern oder traurig sind, fällt Borderline-Betroffenen die