Der Säbeltänzer. Erhard Regener
Bücher. Ich will den Dienst nutzen, und mich noch ein wenig vorbereiten.", Atsche hatte es geahnt: ein Streber.
"Tach. Ich bin Richard Wagner, heute zum SKD eingeteilt.", brachte er etwas pustlos hervor.
"Sie sind zehn Minuten zu spät, Herr Wagner."
"Tut mir leid. Sie wissen ja, diese Langsamfahrstrecken überall. Ich habe meinen Anschluss in Leipzig verpasst.", sofort brodelte es in Atsche. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich für irgendetwas zu entschuldigen, schon gar nicht vor dieser runzligen Harpyie.
"Natürlich weiß ich das. Aber die Genossen von der Reichsbahn arbeiten mit Hochdruck an der Lösung dieses Problems. Man kann eben nicht immer alles auf die Minute genau planen. Vielleicht nehmen Sie das nächste Mal einfach einen Zug früher. Sie haben hier schließlich eine Aufgabe!"
Die Einweisung war eine Farce. Ein Zettel mit allen wichtigen Punkten, die er ohnehin nicht beachten würde (am wenigsten das Alkoholverbot), wäre völlig ausreichend gewesen. Also, da saß er nun mit diesem fein herausgeputzten Heckenpisser, wieder eingesperrt, diesmal im SKD-Verschlag.
"Hallo. Ich bin Thorsten, aber alle nennen mich Hecki.", versuchte diese Frohnatur eine Konversation anzubändeln und streckte Atsche seine Hand entgegen. Atsche ahnte, dass es wenig Sinn machen würde, hier einen auf beleidigt zu spielen. Hecki trug schließlich keine Schuld an dem Dilemma des ersten Abends.
"Hecki, nimm es nicht persönlich, mit diesem Scheißdienst haben sie mir gleich den ersten Abend versaut, aber gründlich. Na ja, wir werden es schon überstehen.", Atsche stellte die Gitarre beiseite und setzte den Rucksack ab. Dabei gab es ein klirrendes Geräusch. Er öffnete den Rucksack und kramte zwei Flaschen Pils hervor, nestelte aus seiner Hosentasche einen Dreikantschlüssel und öffnete damit die beiden Flaschen.
"Ähm, Hecki: Ich weiß, du willst heute noch lernen. Möchtest du vielleicht trotzdem ein Bier?", Hecki rutsche etwas unsicher auf seinem Stuhl hin und her und rückte seine Brille gerade.
"Ich weiß nicht. Wenn ich ein Schluck Bier trinke, kann ich mich danach immer schlecht konzentrieren."
"Ach, komm Junge, das ist der erste Tag und in dieser Woche läuft eh nicht viel.", Hecki nahm zögernd die Flasche, hielt sie weit von sich und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Etikett, als würde er so etwas zum ersten Mal sehen.
"Prost Hecki.", hielt ihm Atsche seine Flasche entgegen, Hecki stieß mit ihm an, klock, setzte die Flasche vorsichtig an seine gespitzten Lippen und nippelte daran wie ein Mädchen.
"Na, war das so schlimm?"
"Nein, nein. Was ist das?"
"Luxator, das beste Bier aus Magdeburg.", sie unterhielten sich artig über Familie, Schule, Armee und das bevorstehende Studium. Leider würden sie, wie sich schnell herausstellte, in der gleichen Seminargruppe sein. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Hecki endlich die seinige Flasche Bier vollständig geleert. Atsche beherrschte sich aus Höflichkeit, in der gleichen Zeit nicht drei Bier hinterzukippen.
Immer wieder gingen diverse Studenten an ihrer Loge vorbei, die einen hinein, die anderen hinaus. Schon vorhin hatten sie sich über zwei vermeintlich deutsche Bewohner gewundert, die sich aber in einer völlig unbekannten Sprache unterhielten. Und was war das jetzt? Ein schüchterner, dunkelhäutiger Junge passierte ihr Fenster und nickte ihnen freundlich zu.
"Was macht der denn hier? Ist das ein Kubaner?"
"Nee, eher Inder oder so was."
"Ich dachte, wir sind hier nur unter uns."
"Das habe ich auch nicht gewusst. Das ist ja wie bei den Weltfestpielen. Toll.", und bei den eben taxierten Balten und dem Pakistani blieb es nicht. Neben deutschen war eine bunte Mischung ausländischer Studenten mit ihnen immatrikuliert worden: Russen, Osteuropäer und Kaukasen, zierliche Asiaten, muskulöse Schwarzafrikaner, Araber, quirlige Mulatten aus der Karibik, hispanische Kreolen und gedrungene Indios aus Südamerika, sogar eine Griechin. Die beiden Jungs hatten bisher kaum Ausländer zu Gesicht bekommen. Und wenn nun einer von diesen Exoten hereinkam, betrachteten sie diesen neugierig, wie in einem Zoo - nur mit dem Unterschied, dass Hecki und Atsche diejenigen waren, die hier im Käfig saßen.
"Du meine Güte, wie sollen wir das in diesem Kerker nur so lange aushalten? Der einzige Trost ist, dass mein Rucksack voller Bier ist. Aber vom Bier muss man immer so viel pinkeln. Ein kleiner Schnaps wäre jetzt das Angemessene.", Atsche sagte dies in der Gewissheit, dass Herr Heckenbauer für derartige Bedürfnisse keinerlei Verständnis haben würde.
"Ein Wissenschaftler findet für jedes Problem eine Lösung."
"Das ist kein wissenschaftliches Problem, sondern ein ganz profanes, Herr Professor.", Hecki ließ sich von dem sarkastischen Unterton nicht beeindrucken. Er nahm seine dicke Aktentasche auf den Schoß und fing in aller Ruhe an, darin herumzuwühlen. Gleich würde dieser Brillen-Heini eines seiner fetten Fachbücher auspacken und darin nach einer Lösung suchen. Aber nein, die Tasche entpuppte sich als wahre Wundertüte. Erst landeten ein paar Strümpfe auf dem Tisch, dann eine Zahnbürste, ein Berg Tütensuppen und zu guter Letzt zog Hecki eine große Flasche mit einem glasklaren Inhalt hervor.
"Na, da ist er ja, mein Kleiner.", seine Augen leuchteten.
"Was ist das?"
"Blauer Würger."
"Was in aller Welt ist denn Blauer Würger?"
"Das ist der billigste Korn überhaupt. Mein Vater hatte ein paar Flaschen 'rumstehen. Und ich dachte mir, bevor er davon zum Säufer wird, nehme ich von dem Zeug was mit."
"Na dann wird das Gelumpe wohl auch nach billig schmecken."
"Schlimmer. Aber 'nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, oder?", jetzt war alles klar, so klar wie der Fusel in der schmucklosen Flasche.
"Hecki, du mieser Hund! Du hast mich auf den Arm genommen."
"Und du bist darauf reingefallen! Huh, huh.", dieser Drahtwurm amüsierte sich köstlich und musste die Brille abnehmen, um sich die Augen zu wischen. Atsche war es mehr als recht, entpuppte sich Hecki letztlich doch als Mensch.
"Und was ist sonst noch in deiner Schatztasche?"
"Noch eine Flasche Blauer Würger und ein paar Kriminalromane. Das mit den Büchern war also nicht gelogen."
"Hecki, soll ich dir mal was sagen?"
"Sag es."
"Ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft."
"Na dann. Prost Atsche."
"Prost Hecki."
Der Nachteil ihres Dienstes entpuppte sich langsam als Vorteil: Alle, die hier wohnen würden, mussten an ihnen vorbei, wobei das Interesse der Wachhabenden vorerst nur dem weiblichen Anteil der Karawane galt. Beide kamen frisch von der Armee und waren in einer bestimmten Beziehung verdammt ausgehungert. Und das Material, das sich hier präsentierte, gab ihrer Fantasie ausreichend Spielraum. Gerade kamen drei Mädels durch, von denen jeder von ihnen jede Einzelne sofort auf seine Favoritenliste setzte. Die Grazien grüßten freundlich und waren in aufgeräumter Stimmung.
"Ich werd' nicht wieder. Wenn das so weiter geht, krieg' ich'n Koller.", und es ging so weiter. Beide mussten sich Mühe geben, den Mund nicht offen zu behalten.
Aber was sie jetzt da draußen im Schein der Abendsonne in einem leichten Sommerkleid, bei jedem Schritt wippend, auf sich zukommen sahen, ließ sie vollends verstummen: ein Mädchen mit langen gewellten schwarzen Haaren, einem natürlich braunen Teint, feinen schwarzen Brauen, einem Profil wie eine Inka-Prinzessin und Augen wie ein Reh: eine Latina wie gemalt! So etwas kannte Atsche nur aus dem Fernsehen. Bisher hatte er stets auf einen festen, strukturierten Kussmund gestanden und daran würde sich auch nichts ändern. Allein bei diesem Mädchen revidierte er seine Meinung radikal und vollständig: Kein anderer Mund würde besser zu ihr passen als ihre weichen, konturlosen, rosafarbenen Lippen. Klack, klack, klack machten ihre Absätze auf dem Steinfußboden des Flurs, als sie an ihnen vorbeispazierte. Sie lächelte den beiden staunenden Gestalten