DAS BUCH ANDRAS I. Eberhard Weidner
sie entweder unmittelbar über einen Monitor angesehen oder zumindest aufgezeichnet wurden.
Zornig stemmte ich meinen Oberkörper empor und wollte mich im Bett aufrichten. Doch ich fiel sofort wieder auf die Matratze zurück, als ich mit dem Brustkorb auf Widerstand stieß und meine Brüste schmerzhaft zusammengequetscht wurden. Ich schluckte die wenig damenhafte Verwünschung, die mir auf der Zunge lag, hinunter – vorwiegend, weil ich meiner Stimme noch nicht traute – und stieß stattdessen erneut ein gequältes Stöhnen aus. Dann richtete ich meinen Blick nach unten, sah auf meinen Körper, und entdeckte einen breiten, brauen Ledergurt, der von einer Seite des Bettes zur anderen verlief und über meinen sich rasch hebenden und senkenden Brustkorb gespannt war. Ähnliche, wenngleich etwas schmalere und kürzere Gurte fesselten sowohl meine Hand- als auch meine Fußgelenke an den metallenen Rahmen des Bettes. Nur am Rande nahm ich außerdem wahr, dass ich einen hellblauen Pyjama trug und von den Schienbeinen bis zum Bauch von einer leichten weißen Decke verhüllt wurde.
Eine weitere, wesentlich schrecklichere Verwünschung bildete sich in dem Teil meines Verstandes, in dem die Niedertracht das Zepter schwingt und in dem derartige verbale Widerwärtigkeiten geboren werden. Ein Ort, der möglicherweise an einen stinkenden, sumpfigen Pfuhl erinnert, an dessen Oberfläche übel riechende Fluchblasen zerplatzen, prall gefüllt mit Obszönitäten und Gemeinheiten. Und dieses Mal, das wusste ich instinktiv, würde es mir nicht mehr gelingen, die Worte zu unterdrücken, ob meine Stimme nun mitmachte oder nicht. Dieses Mal musste ich meinem Ärger über die Behandlung, die mir hier widerfuhr – heimlich observiert und ans Bett gegurtet wie der übelste Schwerkriminelle –, Ausdruck verleihen.
Ich hatte bereits den Mund geöffnet, doch noch bevor ich den ersten Ton des üblen Wortschwalls über die Lippen bringen konnte, hörte ich ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Quietschen wie von einem nicht geölten Scharnier, das schätzungsweise die letzten 184 Jahre nicht in Gebrauch gewesen war, und unmittelbar darauf ein hölzernes Klappern.
Mein wüster Fluch blieb mir förmlich in der Kehle stecken. Ich sah erschrocken zur Tür, dem Ursprung der plötzlichen Geräusche, und bemerkte, dass die Klappe hinter der gläsernen Scheibe geöffnet worden war. Ein Paar leuchtend blauer Augen sah mich durch das nicht ganz saubere Glas aufmerksam an und verschwand wieder, ehe die Klappe kreischend und klappernd geschlossen wurde. Gedämpft hörte ich das Klirren von Schlüsseln, bis einer davon ins Schloss geschoben und rasselnd gedreht wurde, bevor sich die Tür schließlich leise knarrend öffnete.
Kapitel 2
An dem Mann, der durch die offene Tür trat, fiel mir zuallererst die Größe auf, denn er musste sich leicht bücken und den Kopf einziehen, um nicht am oberen Türrahmen anzustoßen. Ich schätzte seine Körpergröße daher auf eins fünfundneunzig, obwohl er mir in diesem Moment aus meiner Perspektive noch gigantischer, ja geradezu wie ein Riese erschien.
Die übrigen Proportionen seines komplett in Weiß gekleideten Körpers passten zu seiner imposanten Größe. Sein Brustkorb war eindrucksvoll, wirkte dabei aber keineswegs zu breit, und er machte auch sonst einen sehr kräftigen, durchtrainierten Eindruck, ohne dick oder aufgeschwemmt zu sein. Das leicht gelockte, blonde Haar war schulterlang und zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Seine Kleidung – kurzärmliges Hemd und Leinenhose – erinnerte mich unwillkürlich an einen Pfleger in einem Krankenhaus und gab mir damit, verbunden mit der Tatsache, dass ich mit Gurten ans Bett gefesselt war, eine erste, wenn auch nicht sehr angenehme Vorstellung von dem Ort, an dem ich mich gegenwärtig befand. Doch fürs Erste verdrängte ich die langsam und bedrohlich in mir heraufdämmernde Erkenntnis, um mich stattdessen voll und ganz auf meinen Besucher zu konzentrieren, der nun unmittelbar neben dem Bett stand, an das ich geschnallt war, und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen auf mich herabsah. Über dem linken Unterarm trug er, wie ich erst jetzt bemerkte, ein Bündel zusammengelegter Kleidungsstücke, das in seinen riesigen Armen geradezu winzig wirkte.
»Mein Name ist Gabriel. Wie geht es Ihnen?«
Seine Stimme klang tief und grollend, gleichzeitig aber auch sehr angenehm. Sie wirkte – ebenso wie seine ganze Erscheinung – beruhigend auf mich. Die Verärgerung über die Fesselung und die Kamera, die noch kurz zuvor in mir gekocht hatte, war seit seinem Erscheinen immer mehr in sich zusammengesunken wie eine aufblasbare Gummifigur, aus der zischend die Luft entwich, und verebbte nun nahezu vollkommen. Anstatt meiner Erregung also lautstark Luft zu machen, wie ich es vor seinem überraschenden Auftauchen eigentlich vorgehabt hatte, dachte ich stattdessen über seine Frage und insbesondere eine passende Antwort darauf nach.
Ich zuckte mit den Schultern, was mir trotz der Gurte möglich war, räusperte mich und sagte dann mit erstaunlich klarer, wenn auch schwacher Stimme: »Es geht so. Ich habe leichte Kopfschmerzen, aber die sind noch zu ertragen. Viel schlimmer ist der Durst. Könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?« Sobald ich diesen Wunsch geäußert hatte, fiel mir ein, dass ich im Zimmer weder ein Waschbecken noch ein Wasserglas gesehen hatte. Wahrscheinlich musste ich mich also noch etwas gedulden, bevor ich meinen Durst stillen konnte.
Gabriel bestätigte meine Einschätzung auch sogleich. »Sie bekommen etwas zu trinken, sobald ich Sie zum Doktor gebracht habe.«
»Doktor?«, fragte ich, während das Wort in meinem Verstand widerhallte wie die Glocke einer Friedhofskapelle. Die düsteren Ahnungen über meinen Aufenthaltsort kehrten mit Macht zurück, und mir brach der Schweiß aus. Gleichzeitig blitzten in meinem Kopf in rasender Folge Fragen auf, schneller noch, als ich sie zu stellen vermochte. Während ich sprach, überschlug sich meine Stimme und wurde vor Verzweiflung immer schriller. »Von welchem Doktor sprechen Sie? Wo bin ich? Und warum bin ich überhaupt hier? Warum werde ich beobachtet? Wer hat das angeordnet? Und wieso wurde ich festgeschnallt? Wer ist für all das verantwortlich? Wo …?«
Ich verstummte abrupt, als Gabriel die rechte Hand hob, als wollte er damit wie mit einem Schutzschild die auf ihn einprasselnden Fragen abwehren, und mir Einhalt gebot. Doch anstatt auf meine Fragen zu antworten, stellte er selbst eine Frage an mich. »Erinnern Sie sich denn nicht?«
Die Frage klang auf den ersten Blick einfach, doch sie brachte mich dennoch aus dem Konzept. Natürlich erinnere ich mich!, dachte ich fast trotzig und begann, in meinem Gedächtnis nach den entsprechenden Erinnerungen zu suchen, da sie nicht sofort präsent waren. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wurde nicht fündig. Dies erschien mir auch logisch, denn warum hätte ich ihm sonst all diese Fragen stellen sollen, wenn ich die Antworten darauf selbst gekannt hätte.
Gabriel hatte mich währenddessen aufmerksam beobachtet. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er würde in diesem Moment bis tief in meine Seele blicken und dort erkennen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ohne meine Antwort abzuwarten, die mir unter Umständen ohnehin vom Gesicht abzulesen war, fuhr er fort: »Wissen Sie denn wenigstens, wie Sie heißen? Können Sie mir Ihren Namen nennen?«
Diese Fragen erschienen mir schon wesentlich einfacher. Ich öffnete den Mund, und eigentlich hätte die Antwort darauf, nämlich die Nennung meines Namens, wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Doch als nichts dergleichen geschah, und ich stattdessen stumm wie ein Fisch blieb und immer angestrengter nachdenken musste, wurde mir schlagartig und mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass es gar keine einfachen Fragen waren. Zumindest nicht für mich und nicht in diesem Augenblick. Gleichzeitig wurde für mich deutlich, dass ich wohl ein wesentlich größeres Problem hatte, als ich zunächst angenommen hatte.
Dennoch ließ ich mich nicht so schnell entmutigen. Ich schloss die Augen, um jede Ablenkung durch die Außenwelt auf ein Minimum zu reduzieren, und forschte noch intensiver in den Tiefen meines bodenlos wirkenden Verstandes. Das gibt es doch nicht, dass ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen, nicht einmal mehr an mich selbst erinnern kann, dachte ich grimmig. Natürlich hatte ich von derartigen Fällen bereits gehört oder gelesen – Amnesie wurde dieser Zustand genannt –, aber das konnte doch nicht mir widerfahren sein. Mein Name ist … Ich bin … Doch an diesem Punkt kam ich einfach nicht weiter.
Meine Gedanken stießen immer tiefer in mein Gedächtnis wie bohrende, tastende, suchende Finger und forschten dort geradezu fieberhaft – und das im wahrsten Sinne