Migräne mit Hirnstammaura - Leben mit einer seltenen, schweren Form der Migräne - auch bekannt als "Basilarismigräne". Tanja Götten
relativ stabil ist. Nach der Geburt (wenn der Östrogenspiegel relativ schnell wieder sinkt) gibt es dann wieder häufiger Migräneattacken.
Auch in den Wechseljahren schwankt der Östrogenspiegel mitunter stark. In dieser Lebensphase fällt es dann besonders schwer, die Migräne in den Griff zu bekommen.
4.3 Forscherdebatte
In neueren Fachartikeln und zuletzt auf einer virtuellen Konferenz der European Academy of Neurology im Juni 2021 führte man eine formelle Debatte darüber, ob es Migräne mit Hirnstammaura (Migraine with Brainstem Aura (MBA)) überhaupt gibt oder nicht.
Es entspannen sich Diskussionen darüber, ob die Symptome der Hirnstammaura tatsächlich dem Hirnstamm entspringen, oder ob nicht auch der Kortex dafür verantwortlich sein könnte, wie eine Professorin der Université de Montpellier in Frankreich vermutet. Sie bezweifelt die Existenz der Migräne mit Hirnstammaura, da die einzelnen Symptome auch durch Störungen im Kortex erklärbar seien. Zahlreiche Studien hätten aufgezeigt, dass eine kortikale Dysfunktion die gleichen Symptome hervorrufen kann, die für eine Migräne mit Hirnstammaura charakteristisch sind. Als Beispiele führt sie Sprachstörungen (Dysarthrien) bzw. Doppelbilder (Diplopien) an, die auch durch die Beteiligung des Gyrus precentralis oder des parieto-okzipitalen Kortex verursacht werden können. Patienten mit Hirnstammaura seien zwar real, aber ihre Symptome würden möglicherweise keine Dysfunktion des Hirnstamms widerspiegeln, so die Professorin.
Viele andere Mediziner, die zur Migräne mit Hirnstammaura geforscht haben, argumentieren, dass in der Literatur und in durchgeführten Telefoninterviews definitiv Patienten gefunden wurden, auf die die Diagnosekriterien der ICHD zutreffen. Mithin existiere die Migräne mit Hirnstammaura per definitionem, wenn auch nur in seltenen Fällen. Auch ermittelten dänische Forscher in durchgeführten Telefoninterviews unter 293 Migränebetroffenen mit Aura 2,2% mit den Diagnosekriterien der Migräne mit Hirnstammaura (vgl. EAN 2021 und Yamani et al 2019).
Andere Ärzte akzeptieren zwar die grundsätzliche Möglichkeit, dass einzelne Symptome auch durch kortikale Vorgänge entstehen könnten, zweifeln aber an, dass es sich bei der bei den Betroffenen vorliegende Häufung und Dramaturgie der Hirnstamm-Symptome um Zufälle handelt. Ein Auftreten der Symptome als Folge von kortikalen Vorgängen sei zumindest wesentlich unwahrscheinlicher.
Die European Academy of Neurology (EAN) wurde 2014 aus der European Neurological Society (ENS) und die European Federation of Neurological Societies (EFNS) gegründet. Sie ist eine gemeinnützige, unabhängige Organisation, die mehr als 45.000 Mitglieder sowie 47 europäische nationale Gesellschaften vertritt. Die medizinische Gesellschaft setzt sich auf europäischer Ebene dafür ein, kontinuierliche Ressourcen für die Erforschung neurologischer Störungen und Erkrankungen sicherzustellen, und arbeitet gleichzeitig eng mit Patientenorganisationen zusammen, um sicherzustellen, dass die Interessen und Perspektiven der Patienten einbezogen werden.
Die EAN organisiert zum Beispiel Online-Bildungsangebote, Stipendien, Förderprogramme für den neurologischen Nachwuchs und den jährlichen Kongress mit jeweils mehr als 6.000 Teilnehmenden.
Denn wie wir auch im Kapitel 4.1 (Anatomie des Hirnstammes) gesehen haben, erscheinen die Zusammenhänge mit Hirnstammfunktionen im Anfallsgeschehen absolut logisch. Warum ein Zweifel hieran überhaupt aufkommt, um zugunsten einer unwahrscheinlicheren, noch komplizierteren Erklärung zu argumentieren, mag sich nicht recht erschließen. Es entsteht der Eindruck, dass eventuell persönliche Motive der Zweiflerin hier eine Rolle spielen. Welche dies sein könnten, und ob diese einen Nutzen für die Betroffenen haben, lässt sich nicht beurteilen.
Nutzen für die Betroffenen
Die Debatten der Mediziner um Diagnosekriterien und Ursache hat für die Betroffenen im Alltag praktisch keine Bedeutung. Sowohl die Symptomatik, als auch die Behandlungsmöglichkeiten sowie Komplikationen und Koerkrankungen bleiben in jedem Falle ähnlich, wenngleich zu überdenken ist, ob die Einschränkung bei der Einnahme von Triptanen, bei denen die basiläre Migräne als Kontraindikation gilt, im Falle einer kortikalen Ursache unter Umständen entfallen könnte.
Für Betroffene wäre es wesentlich wichtiger, dass Ärztenachwuchs generell mit Informationen über die Migräne mit Aura und im Speziellen über die besonderen Migräneformen (auch die mit Hirnstammaura) versorgt würden, bevor man sich auf pathophysiologische Nebenschauplätze begibt. Sinnvoller wäre es, Studien- und Ausbildungspläne zu modifizieren, so dass (potenziell) Betroffene schnelle und treffsichere Diagnostik erhalten, um sie einer adäquaten Behandlung zuführen zu können.
Weiterhin sollte dringend dafür gesorgt werden, dass die durchweg unnütze und schädliche Psychopathologisierung der Hirnstamm-Migräne-Patienten ein Ende hat. Dies liegt nicht nur im Interesse der Betroffenen, es könnten so auch Kosten und Ressourcen im Gesundheitssystem eingespart werden, die heute immer wieder durch falsche Diagnostik, Medikation, Verschlimmerungen und Folgeerkrankungen entstehen.
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