Lied vom stillen Sommernachtstraum. Lars Osterland

Lied vom stillen Sommernachtstraum - Lars Osterland


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zu stürzen … erstmals ist da wieder diese Sehnsucht nach dem Tod, nach der ewigen Ruhe … zu ziellos, zu schwach bin ich zurzeit … Ich ningle mir selbst die Ohren voll, wenn schon kein anderer zuhört … vor allem in meinem Tagebuch: Komme ich noch mal zurück? Bist du noch bei mir? Irgendein schlauer Geist wird sicherlich mal behauptet haben, dass nur die Schwachen Hilfe von oben erhoffen … das kann schon sein, aber immerhin gewährt es etwas Aufschub … man kann noch hoffen, man hat noch nicht aufgegeben, man ist noch nicht am Arsch …

      Ich erreiche immer zeitiger meinen Schlafplatz und breche jeden Morgen etwas später auf – das sagt wohl bereits alles aus … ich täte sie so gern in meine Arme nehmen und nie wieder loslassen … ich muss kein Buch schreiben, ich muss mir selbst nichts beweisen, ich muss für meine Kleine da sein, das ist alles … doch nun, nun werde ich tatsächlich hier draufgehen, weil sich einfach keine Türen mehr für mich öffnen wollen … der morgige Tag dürfte alles entscheiden. Auch am nächsten Schlafplatz ist die Stimmung tief im Keller, eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation. Wenn sich wirklich keine Tür mehr öffnen sollte, wenn mir niemand mehr hilft und ich nichts mehr zu essen habe, dann möchte ich mir einen ruhigen, überdachten Platz am Meer suchen, wahrscheinlich einen Bunker, um dort solang zu verweilen, bis alles vorbei ist … interessant wäre es ja, immerhin würde ich dann die tiefsten Abgründe meiner Psyche kennenlernen. Kann ein Mensch wirklich untätig herumliegen und darauf warten, dass er stirbt? Oder würde man irgendwann einen Punkt erreichen, wo man einen letzten Versuch unternimmt, um zu leben?

      Mit Beginn der Morgendämmerung lag ich die meiste Zeit wach in meinem Schlafsack, versuchte wieder einzuschlafen, konnte mich einfach nicht zum Aufstehen überwinden. Die Nacht war warm, dank des Holzes und der Senke verschonte mich der starke Wind. Jedes Mal wenn ich wach wurde, blinzelte ich zum Himmel, suchte einen Stern, den gefunden ich beruhigt weiterschlafen konnte. Erst kurz nach acht erhob ich mich, um zusammenzupacken und aufzubrechen. Hinter dem Dünengürtel liegt ein Waldgebiet, das sich bis hinauf an die Gironde erstreckt, es soll der größte zusammenhängende Wald in Westeuropa sein. Da ich mich nicht verlaufen wollte, entschied ich mich am Ufer zu bleiben. Nach zwei Stunden kam ich im kleinen Ort Vieux-Boucau-les-Bains an, von da an versuchte ich es auf Asphalt, um etwas Strecke zu machen. Auf der einzigen Straße nach Norden, die D652, war es etwas heikel zu laufen. Die Straße war schmal, neben der Fahrbahn gab es kein bisschen Platz für Fahrradfahrer oder Spaziergänger. Also immer auf der weißen Linie von Ort zu Ort, ständig auf den Gegenverkehr achtend, eine stupide Wanderung, nicht mal das Meer war zu sehen. Kommt mir auf Straßen ein metallic-grüner Mondeo entgegen, blicke ich immer als erstes ganz unbewusst aufs Kennzeichen … ich erschrecke kurz, wenn es dann eines der hier häufig vorkommenden BZ-Kennzeichen ist … muss dann an unsere gemeinsamen Fahrten / Ausflüge denken, an all die Dinge, die ich nicht zu schätzen wusste. In Moliets-et-Maa füllte mir der Kellner in einem Restaurant meine Wasserflaschen auf, die vielen Mittagsgäste betrachteten mich skeptisch, wenn nicht gar angewidert. Ich konnte es verstehen, blickte sie kein bisschen anders an. Da ich genug von dieser Département-Straße hatte, bog ich in den Wald ab, auf Pisten quer durch, ohne irgendeine Ahnung gehabt zu haben, ob ich hier schlussendlich auch weiter nach Norden gelangen würde. Die Sonne schien da noch, was bei der Orientierung half. Wie am Tag davor fühlte ich mich wieder ziemlich kraftlos, zum ersten Mal sprang mir das Springseil in meinem Rucksack ins Bewusstsein, was an den vielen Bäumen gelegen haben muss. Wenn gar nichts mehr geht, sollte man doch wenigstens noch einen geeigneten, festen Ast finden. Nach nur 28 Kilometern an diesem Tag kam ich hier an, zurück am Meer, wieder auf der Düne, diesmal sogar mit einem Bunker.

      Meine Hütte ist durch einen schmalen Eingang betretbar, im Inneren gibt es nur einen etwa zwölf Quadratmeter großen Raum, etwas Müll liegt auf dem sandigen Boden, ich räume mir eine Ecke frei. Es ist dunkel, aber immerhin gelangt etwas Licht durch eine kleine Spalte. Dieser Bunker hier ist eigentlich genau der Ort zum Verweilen, den ich mir gewünscht habe: geschützt gegen Regen und Wind, draußen eine tolle Aussicht aufs Meer, Ruhe, niemand würde mich hier oben auf der Düne beim Sterben stören, den Strand sehe ich nicht, also auch keine Menschen. Der nächste Ort ist weit genug entfernt, wie die meisten Orte hier etwa fünf Kilometer hinter der Küstenlinie, weil zwischen Düne und Ortschaft der Wald als Auffangbecken der Unmengen von Sand dient, die durch Wind kilometerweit ins Landesinnere transportiert werden. Ich setze mich neben den Bunker, um zu schreiben. Etwas Last kann ich dabei abwerfen. Ich denke den ganzen Tag schon an das Himmelfahrtsfest, das ich die letzten zehn Jahre immer mit meinen Jungs von den Paparazzis in Leipzig gefeiert habe, bei Achim im Garten, mit viel Bier, geselliges Zusammensein aller Fanclub-Mitglieder, zum Mittag leckere Wurst vom Fleischer, dazu Brötchen, am Nachmittag ein Kick auf der Parkwiese, mit Bierflasche in der Hand, danach Grillen … oh weh, ich wusste ja anscheinend gar nichts in meinem Leben zu schätzen. Nun bin ich allein, keine warme Mahlzeit, gerade noch fünf Kekse und drei Kippen im Rucksack, vier lächerliche Cent im Portemonnaie, am Ende. Die melancholische Musik hilft da auch nicht … wieder läuft Song to Siren … Here I am. Here I am … wie schon an der Sagrada Família … wie vor drei Jahren in Fredericia, auch damals mit Blick aufs Meer … nur da wartete noch eine Familie auf mich … Ich steigere mich immer mehr in meine Wehmut hinein, aber was solls, denn Reue ohne Weh wäre auch keine Reue.

      Von wegen meine Ruhe. Ich penne bereits vor 20 Uhr ein, wenig später werde ich aufgeschreckt, weil jemand gegen meinen Schlafsack tritt. Ein älterer Mann schaut zu mir runter – dachte hier läge nur Müll, womit er auch nicht ganz im Unrecht lag – reicht mir die Hand, entschuldigt sich und verschwindet gleich wieder, „bonne nuit“. Der Rest der Nacht ist wirklich gut, ich kann jedenfalls nicht meckern und kann ausgeruht in den Tag der Entscheidung starten. Der Himmel ist grau, aber es bleibt weiterhin trocken in Frankreich. Auf der D652 geht es weiter nach Norden, von kurzen Pausen in den aller paar Kilometer kommenden Dörfern unterbrochen … mit der Motivation steht es heute gar nicht so schlecht, pro Pause gibt es einen Stimmungsaufheller, entweder eine Kippe oder einen Keks, immer im Wechsel. Erstaunlicherweise bin ich damit zufrieden, so verändern sich die Maßstäbe … vor zwei Wochen wäre ich noch ziemlich ernüchtert gewesen. Ich gerate endlich mal wieder richtig ins Rollen, in den letzten Tagen habe ich eindeutig zu wenig Strecke gemacht. Zwischen zwei Ortschaften komme ich an einem Restaurant vorbei, gehe spontan hinein, keine Gäste, frage die Kellnerin ob sie irgendwelche Essensreste in der Küche hätten. Sie scheint Mitleid mit mir zu haben und würde gern, muss aber erst ihren Chef fragen. Ein Mann im Che-Shirt kommt nach vorn und beantwortet meine Bitte mit einem einfachen „no!“ … okay, ich gehe trotzdem zufrieden heraus, denn ich habe es wenigstens versucht, was mir viel Überwindung abverlangte … außerdem werde ich in meiner Meinung bestätigt, dass nicht jeder, der Ches Konterfei herumträgt, auch wie Che denkt, nicht einmal ansatzweise, es ist und bleibt eine Modeerscheinung … für mich jedoch wird Che immer ein Vorbild sein. Auch im Guerillakrieg wurden die Rebellen nicht überall, wo sie vorbeikamen, unterstützt. Aber sie mussten es versuchen, immer wieder. Also starte ich im Dorf Lit-et-Mixe einen zweiten Versuch … diesmal eine Pizzeria (Restaurant Camping L'univers), erneut kaum Autos auf dem Parkplatz davor, was die Hemmschwelle geringer werden lässt … gleich vier Menschen hinter der Bartheke … eine ältere Frau, ein Mann im mittleren Alter, daneben wohl seine Frau und noch eine Jugendliche … also wahrscheinlich drei Generationen einer Familie. Ich frage erneut auf Französisch, um so etwas Bonuspunkte zu sammeln. Die Jugendliche hilft mir, spricht als einzige in der Familie Englisch und übersetzt für die anderen. Sie fangen an zu lachen, ich lache mit … die Chancen scheinen gut … ich soll auf dem Barhocker Platz nehmen und warten. Wenig später kommt die Frau der mittleren Generation zurück, reicht mir einen Teller mit einem halben Baguette, mit Schinken belegt … der Mann stellt mir ein Glas Wein neben den Teller. Ich bin glücklich und bedanke mich freudestrahlend vielmals. Ich bin weniger glücklich, etwas Ordentliches in den Bauch zu bekommen, als vielmehr, dass ich endlich nette Menschen in Frankreich getroffen habe, das bringt neue Zuversicht. Als ich fertig bin, bedanke ich mich noch mal bei allen; die ältere Frau meint, dass ich Gott danken soll … vermutlich hat sie Recht …

      Die Département-Straße ist zum Glück recht leer, was die schmale Straße einigermaßen erträglich macht. Bei den Pausen bleibt es dabei, entweder Keks oder Kippe … auf dem Rathausplatz von Saint-Julien-en-Born ist es ein Keks … auf einer Grünfläche vor der Kirche von Bias eine Kippe … das letzte Stück


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