Unter der Sonne geboren, 3. Teil. Walter Brendel
gerissen zwischen dem Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, und der Angst, Athenais zu kompromittieren, mit den Verhören fortzufahren. Am 14. Mai verlangte er jedoch, die Unterlagen, die Madame de Montespan betrafen, aus den Prozessakten zu entfernen, womit es den Richtern praktisch unmöglich wurde, weiterzuarbeiten. Als La Reynie 1709 starb, ließ Ludwig XIV. sich die Dokumente aushändigen, die die Marquise betrafen, und warf sie eigenhändig ins Feuer. Er wusste freilich nicht, dass das Oberhaupt der Polizei eine Zusammenfassung der Verhörprotokolle aufbewahrt hatte, in denen die Favoritin beschuldigt wurde. So wurde die „Chambre ardente“ 1682 auf Befehl des Königs aufgelöst. Ob schuldig oder unschuldig, alle, deren Name im Zusammenhang mit einer möglichen Beteiligung Madame de Montespans an der Giftaffäre gefallen war, wurden ohne Prozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt, in die unzugänglichsten Gefängnisse des Reiches gebracht und dort strengster Isolationshaft unterworfen. Die Kommission war 210mal zusammengekommen und hatte 319 Haftbefehle erlassen, etwa zwanzig Personen hatten fliehen können, und 194 waren eingesperrt worden. Von diesen hatte man 34 hingerichtet, zwei waren unter der Folter gestorben.
Doch durfte man wirklich behaupten, dass diese fürchterlichen Erkundungen in der Welt des Verbrechens zur Aufdeckung der Wahrheit geführt hatten? Wie viel Glauben durfte man den Geständnissen skrupelloser Gesetzesbrecher schenken, denen jedes Mittel recht war, um einen Prozess in die Länge zu ziehen, an dessen Ende sie ein grausamer Tod erwartete? Und hatte die Einrichtung der „Chambre ardente“ nicht selbst dazu beigetragen, die Wahrheit zu verfälschen? Das behauptete jedenfalls Colbert, als Ludwig XIV. ihn in dem Moment um Rat fragte, in dem Madame de Montespan in die Ermittlungen hineingezogen wurde. Im Übrigen zeigt das Einschreiten des berühmten Oberintendanten der Finanzen und Erzfeindes von Louvois sehr deutlich, dass die Giftaffäre auch eine politische Affäre war, ein Skandal, den der Kriegsminister und sein Vertrauensmann La Reynie ausnutzten, um Machtgruppen zu schwächen, die ihnen feindlich gesinnt waren, einschließlich der Kreise um Madame de Montespan, die mit Colbert verwandt und befreundet war. Dutzende Gefangene sitzen noch ein im Schloss von Vincennes, östlich von Paris. La Reynie wird sie weiter verhören. Er glaubt, dass La Voisin Geheimnisse mit auf den Scheiterhaufen genommen hat. Doch er ahnt nicht, wie entsetzlich diese Geheimnisse sind.
Und wie nah seine Ermittlungen ihn an den König heranführen werden.
Und Ludwig selbst unternimmt alles, um die Ermittlungen geheim zu halten. Von unterwegs schreibt er La Reynie einen Brief und weist ihn an, alle Aussagen über Madame de Montespan auf gesonderten Blättern festzuhalten und diese den anderen Mitgliedern der Sonderkommission nicht zu zeigen.
Nicht auszudenken, wenn die Geschichten über die königliche Mätresse etwa in einer der Pariser „Gazettes a la main“ erschiene, jener kleinen, handgeschriebenen Zeitungen, die einem geheimen Kreis von Abonnenten zugestellt werden und Gerüchte aus Versailles berichten.
Der Skandal könnte auf einen Schlag das Bild vom strahlenden Glanz des Hofes des Sonnenkönigs verdunkeln, das Ludwigs Propagandisten auf zahllosen Gemälden und Drucken, Münzen und Triumphbögen, in Gedichten und Theaterstücken verbreiten. Und das ein wichtiges Herrschaftsmittel des Monarchen ist.
Daran ändert auch nichts, dass die Gräueltaten in Wirklichkeit wohl nie stattgefunden haben. La Reynies Zeugen sind alle unzuverlässig: ein notorischer Lügner, ein junges, gestörtes Mädchen, ein Priester, der Anzeichen von Demenz zeigt. Sie alle haben nichts mehr zu verlieren, sie müssen mit der Todesstrafe rechnen. Auch übereinstimmende Aussagen beweisen nichts: Es gibt in Vincennes keine Einzelzellen, die Gefangenen können sich in gewissem Maße absprechen.
Wahrscheinlich hat Madame de Montespan tatsächlich La Voisin aufgesucht. Eine Mätresse führt ein unsicheres Leben, abhängig von der Laune und Libido des Herrschers. Vermutlich hat sie nach einem Liebeszauber gefragt - wie die meisten Kunden der Weissagerinnen.
Es ist zudem denkbar, dass man in einer Stadt, in der jedes Jahr mehrere Hundert Kinder ausgesetzt werden, für ein Silberstück einen Säugling erhält. Aber ist es vorstellbar, dass eine Dame von Montespans Rang sich allein in eine Hütte in Saint-Denis begibt, wie es der Priester aussagt?
Dass sie dort okkulte Praktiken vollzieht? Und auch noch versucht, den König zu ermorden, ihren Geliebten, den Vater ihrer Kinder, den von Gott eingesetzten Herrscher Frankreichs?
Ludwig jedenfalls scheint daran zu zweifeln. Wenn der König von ihrer Schuld überzeugt wäre, könnte er sie ohne großes Aufsehen für den Rest ihres Lebens in ein Kloster schicken. Madame de Montespan aber bleibt am Hof. Und wird nie erfahren, welcher Gräueltaten man sie verdächtigt hat.
Als der König im Juli 1682 die Sonderkommission auflöst, haben die Höflinge längst das Interesse an dem Giftskandal verloren.
Die Richter haben in den vorangegangenen drei Jahren gegen 104 Menschen verhandelt, 17 von ihnen in die Verbannung geschickt und 36 zum Tode verurteilt (von denen zwei schon die Folter nicht überlebt haben). Etliche Gefangene sind in Vincennes gestorben. 16 Personen hat die Kommission entlastet, darunter den Herzog von Luxembourg.
Viele Fälle sind nie vor das Gremium gekommen. Auf Befehl des Königs hat La Reynie der Kammer unter anderem all jene Angeklagten vorenthalten, die Madame de Montespan belastet hatten. Sie werden nicht verurteilt, doch La Reynie muss sie festhalten, damit sie keine Gerüchte über die Mätresse verbreiten.
Dabei handelt es sich zunächst um14 besonders eng verstrickte Personen, darunter La Voisins Ex-Geliebten, Marie Montvoisin und den Priester - aber auch um ihre Zellengenossen: Sie könnten ja etwas über Madame de Montespan erlauscht haben. Auch unbeteiligte Personen wie La Voisins Dienstmädchen landen im Kerker. Insgesamt 65 Frauen und Männer werden auf Festungen in ganz Frankreich verteilt, für den Rest ihres Lebens an Gefängnismauern gekettet, in völliger Isolation an den abgelegensten Orten des Landes.
Im selben Jahr verbietet ein königliches Edikt, die Worte der Heiligen Schrift zu missbrauchen oder sich als Zauberer auszugeben. Der Verkauf von Giften wird erschwert.
Wir wissen nicht, zu welchen Schlussfolgerungen Ludwig XIV. gelangte. Hatte er Erklärungen von Madame de Montespan gefordert? War sie über die Gefahr informiert worden, in der sie schwebte? Die Anschuldigungen gegen sie waren zum größten Teil unglaubwürdig, doch konnte der König wirklich ausschließen, dass die Favoritin ihm heimlich widerwärtige und gesundheitsschädliche Substanzen eingeflößt hatte, um ihn an sich zu binden? Welches auch immer seine innersten Überzeugungen sein mochten, der König hatte keine andere Wahl, als den Ruf der Mutter seiner Kinder zu wahren und sich selbst sowie den Hof vor einem Skandal von unerhörten Ausmaßen zu schützen.
Während die „Giftaffäre“ weiterhin eine ungebrochene Faszination auf Historiker, Biographen und Romanautoren ausübt, bleiben die Schlussfolgerungen, zu denen die Forscher bis heute gelangt sind, bemerkenswert widersprüchlich. Was die Rolle von Madame de Montespan in der Angelegenheit betrifft, so endete mit dem 19. Jahrhundert auch die Zeit der Verfechter ihrer Schuld, und jetzt erheben diejenigen ihre Stimme, die sie für unschuldig halten. Der Prozess, behaupten sie, folgte der typischen Dynamik von Hexenprozessen: Unter der Folter wurden die Verhörten dazu gebracht, das zu gestehen, was die Richter hören wollten. Andererseits hatten die Angeklagten ein verständliches Interesse daran, hochrangige Persönlichkeiten ins Spiel zu bringen, um Verwirrung zu stiften und die Untersuchung in die Länge zu ziehen. Außerdem waren die Anklagen gegen Madame de Montespan voller Widersprüche. Häufig stimmten die Zeitangaben nicht überein, vor allem aber waren die Taten, die man ihr zur Last legte, im Grunde völlig absurd. Warum sollte eine so stolze, intelligente, gebildete, mit unerschütterlichen religiösen Überzeugungen gewappnete und selbstsichere Frau wie die Favoritin sich derart irrwitzigen und grausamen Ritualen unterwerfen? Und selbst wenn es so gewesen wäre, wie konnte sie in Anbetracht ihrer herausragenden Stellung so kompromittierende Beziehungen pflegen, ohne aufzufallen? Andererseits lässt sich schwerlich leugnen, dass Madame de Montespan nichts wichtiger war, als ihren Einfluss auf den König zu erhalten, dass magische Praktiken sich damals mit dem christlichen Glauben vereinbaren ließen und dass es durchaus nicht unmöglich für sie gewesen wäre, heimliche Kontakte zur Voisin und ihren Komplizen zu unterhalten (wie ihre Verwandten und Freunde es getan hatten). Sie genoss uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und hätte sich gegebenenfalls auch