Dombey und Sohn. Charles Dickens
Säugling an die Luft zu führen, oder mit andern Worten, sie wie eine wandelnde Trauer gravitätisch auf dem Pflaster hin und her traben zu lassen) nach ihrem obern Stübchen zurückgekehrt und hatte gerade Platz genommen, als die Tür sich langsam öffnete und ein schwarzäugiges kleines Mädchen hereinsah.
»Ohne Zweifel ist es Miß Florence, die von ihrer Tante nach Haus zurückgekommen ist«, dachte Richards, die das Kind nie zuvor gesehen hatte. »Freut mich, Euch wohl zu sehen, Miß.«
»Ist das mein Bruder?« fragte das Kind und zeigte auf den Säugling.
»Ja, mein Töchterchen«, antwortete Richards. »Kommt her und küßt ihn.«
Statt aber näher heranzutreten, sah ihr das Kind ernst ins Gesicht und sagte:
»Was habt Ihr mit meiner Mama gemacht?«
»Gott segne das kleine Geschöpf!« rief Richards, »welch betrübte Frage! Was ich mit Eurer Mama gemacht habe? Nichts, Miß.«
»Was hat man mit meiner Mama angefangen?« fragte das Kind.
»In meinem Leben hat mich noch nichts so ergriffen«, sagte Richards, die sich natürlich an Stelle dieses Kindes eines ihrer eigenen dachte, das unter ähnlichen Umständen nach ihr fragte. »Kommt nur näher heran, meine teure Miß! Ihr braucht Euch nicht vor mir zu fürchten.«
»Ich fürchte mich nicht vor Euch«, sagte das Kind, näher tretend. »Aber ich möchte wissen, was man mit meiner Mama angefangen hat.«
»Mein Herzchen«, entgegnete Richards, »Ihr tragt dieses hübsche schwarze Kleidchen zur Erinnerung an Eure Mama.«
»Ich kann mich in jedem Kleide an meine Mama erinnern«, erwiderte das Kind und Tränen traten ihm in die Augen.
»Aber die Leute kleiden sich schwarz zum Gedächtnis der Personen, die dahingegangen sind.«
»Wohin gegangen?« fragte das Kind.
»Kommt und setzt Euch zu mir«, sagte Richards, »ich will Euch dann ein Geschichtchen erzählen.«
In der Hoffnung, sie werde Auskunft erhalten, über das, wonach sie gefragt hatte, legte die kleine Florence ihr Hütchen, das sie bisher in der Hand gehalten hatte, bei Seite und setzte sich hurtig auf einen Schemel zu den Füßen der Amme, und sah ihr ins Gesicht.
»Es war einmal eine Frau«, begann Richards – »eine sehr gute Frau, und ihr Töchterlein liebte sie sehr.«
»Eine sehr gute Frau und ihr Töchterlein liebte sie sehr«, wiederholte das Kind.
»Da dachte Gott, es sei recht, daß es so sein sollte; und sie wurde krank und starb.«
Das Kind schauderte.
»Starb, um nie wieder von jemand auf Erden gesehen zu werden, und wurde begraben in der Erde, wo die Bäume wachsen.«
»In der kalten Erde«, versetzte das Kind, abermals schaudernd.
»Nein, der warmen Erde«, erwiderte Polly, ihren Vorteil erfassend, »wo die kleinen Samenkörner sich in schöne Blumen verwandeln, und in Gras, und in Korn und was weiß ich alles. Wo gute Menschen zu schönen Engeln werden und nach dem Himmel hinauf fliegen!«
Das Kind, welches das Köpfchen gesenkt hatte, erhob es jetzt wieder und blickte die Erzählerin aufmerksam an.
»So – laßt mich sehen«, fuhr Polly fort, die durch diese ernste Musterung, ihren Wunsch, das Kind zu trösten, ihren plötzlichen Erfolg und das geringe Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ein wenig in Verwirrung geriet. »Ja, so ist es – als diese Dame starb, ging sie zu Gott, wohin immer man sie auch genommen haben mag; und sie betete zu ihm. – Ja, das tat sie«, sagte sie in großer Erregung, da es ihr Ernst war, »er möge ihr Töchterlein lehren, daß es diese Überzeugung immer fest in seinem Herzen trage, und ihm kund tun, daß sie im Himmel glücklich sei, und ihr Kind noch immer liebe. Es solle daher hoffen und alle seine Kräfte aufbieten – ja, das ganze Leben lang –, daß es eines Tages dort wieder mit ihr zusammentreffe, um nie, nie, nie wieder von ihr getrennt zu werden.«
»Das war meine Mutter!« rief das Kind aufspringend und schlang seine Arme um den Nacken der Amme.
»Und das Herz des Kindes«, sagte Polly, sie an ihre Brust ziehend, »das Herz der kleinen Tochter war so voll von dieser Wahrheit, daß sie, selbst als sie sie von einer fremden Amme erzählen hörte, die es nicht mal recht erzählen konnte, sondern selbst weiter nichts als eine arme Mutter war, einen Trost darin fand. Sie fühlte sich nicht mehr so einsam – sie schluchzte und weinte an ihrem Busen – und sie liebte das kleine Kindlein, das in ihrem Schoß lag und – da, da, da!« fügte Polly bei, indem sie die Locken des Kindes zurückstrich, auf welche ihre Tränen niederfielen, »das arme Herzchen!«
»So, das ist ja schön, Miß Floy! Und wird Euer Pa nicht wieder zornig werden?« rief von der Tür her eine schrille Stimme, die aus dem Munde eines kleinen, braunen, altklugen Mädchens von vierzehn Jahren mit einer Mopsnase und pechschwarzen Augen kam. »Hat er doch ausdrücklich befohlen, Ihr sollt nicht zu der Amme gehen und sie belästigen?«
»Aber sie belästigt mich durchaus nicht«, erwiderte Polly überrascht. »Ich habe die Kinder gerne.«
»O, ich bitte um Verzeihung, Mrs. Richards; doch Ihr müßt wissen, daß es darauf nicht ankommt«, versetzte das schwarzäugige Mädchen, das so verzweifelt scharf und beißend war, daß es wie eine Zwiebel einem das Wasser in die Augen bringen konnte. »Ich esse auch gerne Penny-Semmeln, Mrs. Richards, aber daraus folgt noch nicht, daß ich sie statt des Tees erhalte.«
»Na, das macht nichts«, sagte Polly.
»O, danke schön, Mrs. Richards – meint Ihr?«, entgegnete das schnippische Mädchen. »Vergeßt übrigens nicht, wenn Ihr so gut sein wollt, daß Miß Floy unter meiner Obhut steht und Master Paul unter der Eurigen.«
»Deswegen brauchen wir uns ja nicht zu zanken«, sagte Polly.
»O nein, Mrs. Richards«, erwiderte der kleine Sprühteufel. »Durchaus nicht, ich wünsche das auch nicht, denn wir stehen nicht auf solchem Fuße miteinander. Miß Floy ist ein dauernder Pflegling, Master Paul nur ein vorübergehender.« Sprühteufel bediente sich keiner andern als Kommapausen, und alles, was sie zu sagen hatte, strömte womöglich in einem einzigen Satze, in einem Atem heraus.
»Miß Florence ist eben erst nach Hause gekommen, nicht wahr?« fragte Polly.
»Ja, Mrs. Richards, eben erst nach Hause gekommen, und kaum daß Ihr eine Viertelstunde hier seid, Miß Floy, geht Ihr schon hin und beschmiert mit Eurem feuchten Gesicht das teure Trauerkleid, das Mrs. Richards für Eure Ma trägt.«
Nach dieser Vorhaltung riß der junge Sprühteufel, deren eigentlicher Name Susanna Nipper war, mit einem Ruck die Kleine von ihrer neuen Freundin los, als ob sie ein fauler Zahn wäre. Doch schien sie es mehr aus übergroßem Diensteifer, als aus überlegter Lieblosigkeit zu tun.
»Sie freut sich so, daß sie wieder zu Hause ist«, sagte Polly, indem sie Florence mit einem ermutigenden Lächeln zunickte, »und wird sich noch mehr freuen, wenn sie heute abend ihren lieben Papa zu sehen bekommt.«
»Du meine Güte, Mrs. Richards!« rief Miß Nipper, ihr rasch ins Wort fallend, »sprecht nicht so. Ihr meint doch ihren lieben Papa sehen! So etwas möchte ich wohl auch mal erleben!«
»Wird sie es denn nicht?« fragte Polly.
»Du meine Güte, Mrs. Richards, nein, ihr Papa ist viel zu sehr auf jemand anders versessen, und schon ehe dieser jemand anders da war, war sie nie sonderlich beliebt. Mädchen gelten in diesem Hause nichts, Mrs. Richards, kann ich Euch versichern.«
Die Kleine sah hastig von der einen Pflegerin auf die andere, als ob sie fühlte und verstünde, was gesprochen wurde.
»Ihr setzt mich in Erstaunen!« rief Polly. »Hat Mr. Dombey nie nach ihr gefragt, seit –«
»Nein«, unterbrach sie Susanna Nipper. »Nicht ein einziges Mal, und seit Jahr und Tag hat er sie kaum mit einem Auge angesehen, und ich