Dombey und Sohn. Charles Dickens

Dombey und Sohn - Charles Dickens


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einsamen Zustande zurückgelassen hatten, die Hände in seine Taschen steckte, sich in den Wagen zurückwarf und ein »mit dem Heidideldumdidum!« ganz durchpfiff. Dabei legte er in sein Gesicht einen Ausdruck so voll düsteren und schrecklichen Trotzes, daß es Mrs. Chick nicht wagte, zu protestieren oder in irgendeiner Weise ihn zu belästigen.

      Obgleich Richards den kleinen Paul auf ihrem Schoß hatte, konnte sie doch ihren eigenen Erstgeborenen nicht vergessen. Sie fühlte zwar wohl, daß sie undankbar war; aber der Einfluß des Tages fiel sogar auf die barmherzigen Schleifer, und sie konnte sich kaum erwehren, das zinnerne Abzeichen mit Nummer hundertundsiebenundvierzig in irgendeiner Weise als einen Teil seiner Förmlichkeit und Kälte zu betrachten. Auch sprach sie in der Kinderstube von seinen »gesegneten Beinen«, und aufs neue fühlte sie sich durch sein Abbild in Uniform beunruhigt.

      »Ich weiß nicht, was ich darum geben würde«, sagte Polly, »wenn ich den armen lieben Kleinen sehen könnte, ehe er sich daran gewöhnt hat.«

      »Ei, so will ich Euch etwas sagen, Mrs. Richards«, entgegnete Nipper, die ins Vertrauen gezogen worden war, »besucht ihn, damit Ihr Euch darüber beruhigen könnt.«

      »Mr. Dombey wird es nicht gerne haben«, sagte Polly.

      »Warum nicht gar, Mrs, Richards«, erwiderte Nipper; »im Gegenteil, ich glaube, er würde sich freuen, wenn er darum gebeten würde.«

      »Vermutlich würdet Ihr ihn nicht darum bitten wollen?« sagte Polly.

      »Nein, Mrs. Richards, ganz im Gegenteil, und da, wie ich sie heute sagen hörte, jene zwei Inspektorinnen, Tox und Chick, morgen nicht Dienst zu tun gedenken, so wollen ich und Miß Floy morgen früh mit Euch gehen, recht gerne, Mrs. Richards, wenn es Euch recht ist, denn wir können dort so gut die Straße auf und ab spazieren, als anderswo, ja noch besser.«

      Polly wies diesen Gedanken anfänglich ziemlich standhaft zurück; aber allmählich begann sie sich daran zu gewöhnen, um so mehr, da die verbotenen Bilder ihrer Kinder und ihrer Heimat ihr immer lebhafter vor die Seele traten. Endlich kam sie zu dem Schlusse, es schade ja nichts, wenn sie einen Augenblick an der Tür anspreche, und dieser Grund bewog sie, auf Klippers Vorschläge einzugehen.

      Nachdem die Sache in dieser Weise beschlossen war, begann der kleine Paul kläglich zu schreien, als habe er eine Vorahnung, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde.

      »Was ist mit dem Kinde?« fragte Susanna.

      »Es wird ihn frieren, denke ich«, entgegnete Polly, und ging mit ihm hin und her, um ihn zum Schweigen zu bringen.

      Es war in der Tat ein frostiger Herbstnachmittag, und als sie, ihren Pflegling pätschelnd, hin und her ging, ihn fester an ihre Brust drückte und durch die traurigen Fenster hinausschaute, fielen die welken Blätter mit Macht nieder.

       Sechstes Kapitel. PAULS ZWEITE VERWAISUNG.

      Am Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.

      Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.

      Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.

      Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.

      Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten,


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