Dombey und Sohn. Charles Dickens

Dombey und Sohn - Charles Dickens


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sagte sein Bruder mit einem geheimen sarkastischen Sinn in seiner Betonung.

      »Du triffst mich schwer. Deine Hand ist fest, und dein Stoß geht tief«, entgegnete der andere mit einer Stimme – wenigstens kam es Walter so vor – als habe ihn bei diesen Worten irgendeine grausame Waffe durchbohrt. »Ich vergegenwärtigte mir all dieses, als er noch ein Knabe war. Ich glaubte es. Für mich war es eine Wahrheit. Ich sah ihn leichten Fußes hineilen an dem Rande eines unbemerkten Abgrundes, an dem so viele andere mit gleicher Heiterkeit hingleiten und von dem –«

      »Die alte Entschuldigung«, unterbrach ihn sein Bruder, in dem Feuer schürend. »So viele. Nur weiter. Sage: so viele stürzten.«

      »Von dem ein Wanderer hinabstürzte«, erwiderte der andere, »der, gleich ihm ein Knabe, seine Bahn angetreten hatte, aber immer mehr das sichere Fußen verlor, allmählich weiter und weiter glitt und endlich abwärts rollte, bis kein Halt mehr war und er unten anlangte als ein Zerschmetterter. Denke dir, was ich litt, wenn ich diesen Knaben betrachtete.«

      »Du hast alles nur dir selbst zu danken«, versetzte der Bruder.

      »Nur mir selbst«, pflichtete er mit einem Seufzer bei. »Ich suche die Schuld ebenso wenig zu teilen, als die Schmach.«

      »Die Schande hast du gleichwohl auf andere übertragen«, murmelte James Carter durch seine Zähne, und zwar durch so viele und festgeschlossene Zähne, als bei dem Murmeln nur möglich war.

      »Ach, James«, erwiderte sein Bruder, zum ersten Male im Tone des Vorwurfs sprechend, und dem Tone der Stimme nach hatte es den Anschein, als habe er sein Gesicht mit den Händen bedeckt, »seitdem bin ich für dich ein nützliches Stichblatt gewesen. Bei deinem Hinanklettern hast du mich ohne Umstände niedergetreten – tritt mich nicht noch obendrein mit deiner Ferse.«

      Es folgte eine Pause. Nach einer Weile hörte man Mr. Carker, den Geschäftsführer, mit seinen Papieren knistern, als sei er willens, die Unterhaltung zum Schlusse zu bringen. Zu gleicher Zeit näherte sich sein Bruder der Tür.

      »Weiter ist nichts an der Sache«, sagte er. »Ich beobachtete ihn mit so viel Furcht und Zittern, daß es mir eigentlich zur Strafe wurde, bis er die Stelle überschritten hatte, wo ich das erstemal zu Fall kam; und dann – ich glaube, wenn ich sein Vater gewesen wäre, hätte ich Gott nicht inbrünstiger danken können. Ich wagte es nicht, ihn zu warnen und ihm zu raten; aber wenn ich irgendeine unmittelbare Ursache wahrgenommen hätte, so würde ich ihm mein Beispiel vor Augen geführt haben. Ich scheute mich, auch nur im Gespräch mit ihm gesehen zu werden, damit man nicht glauben möge, ich verlockte ihn zu etwas Schlimmem oder verderbe ihn – ja, ich vermied jede Annäherung, damit dies nicht etwa wirklich geschehe. Ich weiß nicht, aber es kann ein solcher Ansteckungsstoff in mir liegen. Vergleiche meine Geschichte mit der des jungen Walter Gay, vergegenwärtige dir, welche Gefühle er mir einflößen mußte – und denke milder von mir, James, wenn du kannst.«

      Mit diesen Worten trat er in den Flur hinaus, wo Walter stand. Er wurde blaß, als er ihn dort sah, und erblaßte noch mehr, als ihn Walter bei der Hand faßte und in Flüsterlauten zu ihm sagte:

      »Mr. Carker, ich bitte, erlaubt mir. Euch zu danken, und laßt mich Euch sagen, wie sehr ich für Euch fühle, wie leid es mir tut, daß ich von alledem die unglückliche Ursache war! Ich betrachte Euch jetzt fast als meinen Beschützer und Hüter! Wie sehr, wie sehr fühle ich mich Euch verpflichtet und wie innig bemitleide ich Euch!« sagte Walter, ihm beide Hände drückend und in seiner Aufregung kaum wissend, was er tat oder sprach.

      Mr. Morfins Zimmer befand sich in der Nähe und war leer. Da die Tür weit offen stand, so begaben sie sich wie aus gemeinschaftlichem Antrieb dahin, weil der Flur selten von Vorübergehenden frei war. Dort angelangt, bemerkte Walter in Mr. Carkers Gesicht einige Spuren von innerer Erregung und eine so große Veränderung desselben, daß er fast meinte, er habe dieses Antlitz nie zuvor gesehen.

      »Walter«, sagte er, seine Hand auf die Schulter des Jünglings legend, »zwischen uns ist ein weiter Abstand, und möge dieser immer stattfinden. Wißt Ihr, was ich bin?«

      »Was Ihr seid?« schien auf Walters Lippen zu schweben, als er den Sprecher aufmerksam betrachtete.

      »Es nahm seinen Anfang vor meinem 21. Geburtstag«, sagte Carker – »in Gedanken viel früher vorbereitet, aber erst angefangen um diese Zeit. Ich bestahl sie, als ich volljährig wurde. Ich bestahl sie nachher. Noch vor meinem 22jährigen Geburtstag war alles entdeckt, und damals, Walter, starb ich für die menschliche Gesellschaft.«

      Wieder schwebten die letzten Worte zitternd auf Walters Lippen, aber er konnte weder ihnen noch seinen eigenen Gedanken Laute verleihen.

      »Das Haus war sehr wohlwollend gegen mich. Möge der Himmel den alten Mann für seine Nachsicht belohnen! Auch dieser eine, sein Sohn – damals noch ein Neuling in der Firma, die mir großes Vertrauen geschenkt hatte! Ich wurde in das Zimmer berufen, das jetzt seins ist – seitdem habe ich's nie wieder betreten – und kam heraus als der Mensch, den Ihr jetzt in mir kennt. Viele Jahre saß ich an meinem gegenwärtigen Platze, allein wie jetzt, aber damals ein bekanntes und entlarvtes Beispiel für die übrigen. Sie hatten alle Erbarmen mit mir, und ich lebte. Die Zeit hat diesen Teil meiner jammervollen Sühne getilgt, und ich glaube, außer den drei Häuptern des Hauses ist niemand hier, der von meiner Geschichte genau unterrichtet wäre. Ehe der kleine Knabe heranwächst und ihm Mitteilung davon gemacht wird, ist vielleicht meine Ecke erledigt. Gebe Gott, daß es so sei. Dies ist der einzige Wechsel, den ich mir wünschen kann seit jener Zeit, als ich meine Jugend, die Hoffnung und die Gesellschaft aller guten Menschen in jenem Zimmer hinter mir zurückließ. Gott behüte Euch, Walter! Bleibt ehrlich und haltet alle, die Euch lieb sind, zur Redlichkeit an, oder schlagt sie lieber tot!«

      Eine schwache Erinnerung, als habe der Redende vom Kopf bis zu den Füßen gezittert, wie bei überwältigendem Frost, und als sei er in Tränen ausgebrochen – dies war alles, dessen Walter sich noch erinnern konnte, wenn er es versuchte, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sich wieder genau ins Gedächtnis zu rufen.

      Als ihn Walter wiedersah, hatte er sich in seiner früheren stummen, demütigen Weise über sein Pult gebeugt. Er entnahm daraus, daß der arme Mann fest entschlossen war, allen weiteren Verkehr mit ihm zu vermeiden, und wie er zu wiederholten Malen alles bei sich erwog, was er am Morgen in so kurzer Zeit von der Geschichte der beiden Carker gesehen und gehört hatte, konnte er kaum glauben, daß er für Westindien bestimmt sei und so bald für Onkel Sol und Kapitän Cuttle verloren sein werde. Er dachte dabei auch an Florence Dombey – nein, nicht an Florence, sondern an Paul, wie er sich einreden wollte, und an alle, die er liebte und die ihm im täglichen Leben nahestanden.

      Dennoch hatte es seine Richtigkeit, und die Kunde war bereits bis ins äußere Bureau gedrungen; denn während er mit schwerem Herzen dasaß, seinen Betrachtungen nachhing und dabei den Kopf auf den Arm stützte, kam der Ausläufer Perch von seinem Mahagonidreifuß heruntergestiegen, berührte seinen Ellenbogen und bat um Entschuldigung, daß er ihm etwas ins Ohr zu sagen wünsche: ob er nämlich nicht glaube, er könne es einleiten, einen Krug eingemachten Ingwers wohlfeil nach England zu schicken – für Mrs. Perch, damit sie sich nach ihrem nächsten Wochenbett daran erlaben möge.

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