Chwedlau Tywyll - Dunkle Märchen. Nadja Losbohm

Chwedlau Tywyll - Dunkle Märchen - Nadja Losbohm


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Pflanze. Bei der letzten angekommen schwor sie: „Ich werde gut auf euch achtgeben.“ Und das tat sie auch. Mit jedem Tag, der verstrich, wuchsen die Schösslinge mehr und mehr zu Bäumchen heran, an denen schon bald prächtige weiße und rosarote Blüten leuchteten, die sich am elften Morgen zu Früchten gewandelt hatten, ihre Schale noch grün, was ihre Unreife verriet. Càirdeas erfüllte der Anblick nichtsdestotrotz mit Stolz, aber auch mit Wehmut, denn derjenige, dessen Vermächtnis vor ihr stand, fehlte ihr. Ob er wusste, wie gut sich die unscheinbaren, aber voller Leben steckenden Apfelkerne entwickelt hatten? Sie schaute sich in dem Wald suchend nach ihm um. Doch kein Zeichen von ihm war zu sehen. Bis zum Abend verharrte sie bei den Apfelbäumen, ohne das der Fremdling auftauchte.

      Am Morgen des 12. Tages goss sie die Bäume ein letztes Mal, ganz so wie es ihr befohlen worden war, und dachte darüber nach, was nun geschehen würde. Die Früchte hatten ihre Farbe von Grün in sattes Rot verändert. Die Schale verströmte einen so herrlichen Duft, dass Càirdeas das Wasser im Munde zusammenlief und sie überlegte, ob es ihr erlaubt war, die Äpfel zu essen. Sie waren einfach zu verführerisch, wie sie so da an den Ästen hingen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr geheimnisvoller Liebhaber gesagt hätte, die Früchte seien essbar. Auch hatte er kein Verbot ausgesprochen, dass sie es nicht tun dürfe. Lediglich hatte er von einem Geschenk geredet. Càirdeas zerriss es innerlich. Was sollte sie tun? Schließlich entschied sie sich dazu, den heutigen Tag vergehen zu lassen, ohne die Äpfel anzurühren. Welchen Weg sie dann einschlagen würde, wusste sie noch nicht.

      Die Scheite knackten, während sie unter dem Suppenkessel brannten. Funken stoben in die Luft. Der Geruch von Holz, Rauch und Eintopf erfüllte Càirdeas Hütte. Sie legte ihr Schultertuch ab und ging zu der Bank am Fenster, um sich eine Schüssel und einen Löffel für ihr Mahl zu holen. Als sie dort stand, erregte ein Schatten ihre Aufmerksamkeit, der am Waldrand zwischen den Sträuchern hervortrat. Càirdeas reckte den Hals und kniff die Augen zusammen, versuchend, mehr zu erkennen. Als sie nach und nach immer mehr Schemen zählte, keuchte sie auf. Das Essgeschirr glitt ihr aus den Händen, und sie taumelte zur Tür. Mit zittrigen Fingern öffnete sie diese und stolperte in den letzten Sonnenstrahlen des Tages über den unebenen Boden vor ihrem Haus. Je weiter sie lief, desto klarer wurde ihr, dass die Schatten in Wahrheit junge, groß gewachsene Männer waren. Es waren 12 an der Zahl, alle so finster, wild und schön wie -

      Càirdeas schlug die Hände vor den Mund, um ihren Aufschrei zu unterdrücken. Ihre tränenverschleierten Blicke wanderten ungläubig, aber auch über alle Maßen glücklich von einem zum anderen. „Meine Apfelbäume“, hauchte sie und schickte innerlich Worte des Dankes an den Fremdling, der ihr das ungewöhnlichste und zugleich schönste Geschenk ihres Lebens gemacht hatte.

      „Mutter“, sagten die 12 Männer wie aus einem Munde und knieten sich zur selben Zeit vor sie ins Gras, in der rechten Hand unterschiedliche Waffen haltend. Càirdeas erschrak ein wenig ob dieses Anblicks und auch wegen ihrer Zurückhaltung und Förmlichkeit. Ihr selbst war vielmehr danach, zu ihnen zu stürmen und sie in die Arme zu schließen. Nur um ihretwillen hielt sie sich zurück und schritt gemächlich zu ihrem ersten Sohn. Dieser hatte seine Hand um den Knauf eines Großschwertes geschlossen, dessen silberne Klinge mit Runen verziert und dessen Spitze in die Erde gerammt war.

      „Ich gebe dir den Namen Standhaftigkeit“, verkündete Càirdeas, lehnte sich vor und küsste seine Stirn. Zum zweiten Sohn, der eine Lanze hielt, sprach sie: „Du bist Weisheit.“ Und auch ihm gab sie einen Kuss auf die Stirn. Zum dritten Sohn, der eine Streitaxt mit bronzenem Axtblatt umschloss, sagte sie: „Du bist Vergebung.“ Und auch er wurde geküsst. So wanderte sie zu jedem ihrer 12 Söhne, gab ihnen Namen und küsste ihre Stirn: Den vierten nannte sie Gerechtigkeit, da er einen goldenen Blitz und ein Zepter in seiner Hand trug. Den fünften Sohn nannte sie Mäßigung, da ein aufgerolltes Seil, in das feinste Kupferfäden eingearbeitet waren, über seiner Schulter hing. Den sechsten nannte sie Wahrhaftigkeit wegen der Fackel und dem Feuerstein, die er bei sich trug. Den siebten Sohn nannte sie Zurückhaltung, weil er einen Kriegshammer, dessen Kopf einen Schlagdorn besaß, führte. Den achten nannte sie Ehrfurcht, denn er hielt einen Morgenstern umschlossen. Den neunten Sohn nannte sie fortan Geduld, weil er Pfeile, deren Enden mit Adlerfedern befiedert waren, und einen Bogen trug. Den zehnten nannte sie wegen der Glefe, einer Stangenwaffe mit Hiebklinge, die er hielt, Milde. Den elften nannte sie Treue, weil er als Waffe eine aus Knochen gefertigte Flöte mit zwei Melodierohren hatte, die Schmerz und Leid verursachte, sobald er sie spielte. Den zwölften Sohn nannte sie Gemütsruhe, denn er führte eine Armbrust und dazugehörige Bolzen mit sich. „Ihr seid meine Söhne, die 12 Söhne der Càirdeas, der Verbundenheit. Erhebt euch nun und sorgt gemeinsam, Seite an Seite, als eine Einheit für Recht und Gerechtigkeit unter den Menschen“, rief ihre Mutter und breitete feierlich die Arme aus. Von diesem Tage an durchstreiften sie das Land und führten diejenigen ihrer gerechten Strafe zu, die Böses taten: Diebe, Betrüger, Ehebrecher, Vergewaltiger und Mörder.

      Die Zeit verrann, Jahre zogen vorüber und unter den 12 Söhnen der Verbundenheit entstand ein Wettstreit. Sie begannen die zu zählen, an denen sie ihre Urteile vollstreckten, und prahlten mit ihren Taten voreinander. Neid und Eifersucht entbrannten, und es geschah, dass sie die Waffen, einst von ihrem Vater, dem Gott des Waldes und der Fruchtbarkeit, erhalten, gegeneinander einsetzten. Die 12 Brüder verfolgten sich gegenseitig, kämpften unerbittlich und lieferten sich so grausame Schlachten, wie es sie in unserer Welt noch nie gegeben hatte. Vögel trugen die Nachricht darüber zu Càirdeas, die weit entfernt allein in ihrer Hütte lebte. Bestürzt über die Vorgänge und das Verhalten ihrer Kinder suchte sie Zuflucht an dem Ort, an dem einst die Apfelbäume gestanden hatten. Auch wenn auf ihre Existenz nun nichts mehr hindeutete, hatte sie keinerlei Probleme, die Stelle zu finden. Denn eine Mutter vergisst nie, wo ihre Kinder geboren wurden. So kniete Càirdeas dort und beschwor, wen auch immer, ihr zu helfen und dafür Sorge zu tragen, dass ihre Söhne von dem Wahnsinn abließen. Jedoch noch ehe sie ihr Flehen beendet hatte, erreichte sie ein weiterer geflügelter Bote, der schmerzliche Kunde brachte. Dein Sohn Mäßigung ist tot, hörte Càirdeas ihn zwitschern, und es sollte nicht die einzige Todesbotschaft bleiben. In den folgenden Stunden und Tagen kamen weitere Vögel, ob Eule, Spatz oder Rabe, zu ihr. Sie alle brachten dieselben Worte auf ihren Schwingen mit sich: Dein Sohn ist tot. Das Herz Càirdeas‘ zerbrach in tausend Stücke, und sie weinte viele, viele Tränen. In der Tat waren es so viele Tränen, dass sich die liebreizende Frau, einst vom Gott des Waldes geliebt, in eine Quelle verwandelte an der Stelle, an der sie die 12 Apfelkerne gepflanzt hatte. Und so ging Càirdeas, die Mutter der 12 Söhne, in die Geschichte ein und wandelte sich zu einer Sagengestalt ebenso wie ihre Kinder, die statt Ordnung zu schaffen, Chaos zurückließen. Und obgleich viele die tragische Erzählung belächeln, sind es eben jene Menschen, die in ihrer Not zu der Quelle, die noch heute in den Eichenwäldern nahe Killarney existiert, pilgern. Nicht um zu beten oder um Hilfe zu bitten. Sie tun es, um sich zu erinnern, dass ihr Leid, was immer es sein mag, nicht so groß ist wie das der Càirdeas, die ihre 12 Söhne verlor.

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