EINFACH. ÜBER. LEBEN.. Maxi Hill
Die Lebensmittelknappheit war nichts als der Auswurf korrupter Ungerechtigkeit.
Um Hellen bei der Stange zu halten, murmelte ich die Weisheit eines Experten der Welthungerhilfe vor mich hin, die mir schon seit geraumer Zeit nicht aus dem Sinn ging:
»Auch wenn die meisten Opfer nicht im strengen Sinne verhungern, so sterben sie doch an Krankheiten, die bei guter Ernährung nicht lebensbedrohlich gewesen wären.«
Ich spürte Hellens Hand auf meinem Arm und hörte ihr stoßartiges Raunen, doch zu reden war sie nicht imstande.
»Es gäbe genug zu essen auf dieser Welt«, murmelte ich, selbst unschlüssig, was in diesem Moment am Zaun leidgeprüfter Menschen zu tun sei. Das allerdings durfte ich mit Hellen nicht bereden, nicht jetzt. Noch eine Weile standen wir betroffen herum. Nur ein schäbiger Zaun trennte uns von dem Elend, genug, um zu ergründen, jeder für sich und ohne Worte, wie viel fremden Leides man ertragen kann. Auch Hellen schien das gleiche Entsetzen gepackt zu haben wie mich.
»Die armen Kinder«, zischte sie dicht neben mir, zog an meiner Bluse und schob ihr Gesicht dicht hinter meinen Kopf, als dürften diese Menschen da hinter der Absperrung sie nicht erkennen, ihr Wohlergehen nicht begreifen.
Ich war in diesem Moment auch nicht gerade stark, und immer, wenn ich mich schwach fühlte, dachte ich an mein Kind, das so unerreichbar fern von mir war. Dafür sei es wohlernährt und gutgebildet, sehnsuchtsvoll im Moment, aber an Körper und Geist unversehrt, wie man sagt.
Heute bin ich von der Unversehrtheit der kindlichen Seele nicht mehr überzeugt, aber die Zeit half mir über die Trugschlüsse des Lebens hinweg. Sie heilte nicht die Wunden mütterlichen Leidens, wohl aber die meiner Unwissenheit. Sie machte mich klüger, aber nicht ruhiger. In diesem Moment unschlüssigen Verharrens war ich endlich einmal wütend.
Im hinteren Winkel des Hofes, wo die Sonne ein helles Dreieck in den Sand malte, hockten die Kinder der Familie beieinander mit großen, ängstlichen Augen. Sie sprachen kein Wort. Auf den ersten Blick waren es ganz normale Kinder, zerzauste Wuschelköpfe, verschmierte Münder, gelb-verkrustete Nasen und ebensolche Krümel in den Augenwinkeln. Man konnte sicher sein, sie waren nicht an diesem Morgen so schmutzig geworden. Also fehlte es an Wasser. Vom einzigen Bach, der durch diese Stadt floss, waren wir soeben gekommen, etwa drei Kilometer von hier entfernt. Neben der Hauptstraße dicht beim Laureano floss er von West nach Ost durch die bairros dieser Stadt. Wie weit es von hier bis zur Quelle unterhalb der Igreja Senhora da Monte war, konnte ich nicht abschätzen, aber es war sehr weit für nackte Füße.
Das Auffälligste an den Kindern waren ihre runden Bäuche, die die Kleinen wohlgenährt erscheinen ließen, wüsste man nicht um die Folgen der Unterernährung. Nur Enkembe hatte keinen so aufgedunsenen Bauch. Er stand bei seinen Geschwistern und bastelte an einem Drahtgestell herum. Not beflügelt zuweilen die Fantasie. Enkembe hatte aus Draht und einer zerbeulten Fanta-Dose ein kleines Vehikel geformt, das die Grundform eines Autos erkennen ließ. Er hatte uns bemerkt, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Ein wenig beklommen winkte ich ihm zu. Nur mit den Augen und einem leichten Lächeln, schon kam er angeflitzt. In meiner Tasche zusammengeknüllt steckte ein Ringelpullover, den ich eigens für den Jungen mitgenommen hatte. Das war es, was mir den ganzen Weg über eigenartig auf der Seele brannte. Man wusste nie, womit man den Menschen hier eine Freude bereiten konnte. Einmal wollte ich einer Landfrau meine Strickjacke schenken. Sie saß vor ihrer armseligen Hütte bei den Hügeln außerhalb der Stadt und stillte ihr Kind. Die pralle Brust quoll aus den Löchern ihres zerfetzten Kittels. Dennoch wehrte die Frau meine großzügige Gabe ab. Für sie hatte das Ding keinen praktischen Wert. Ihrer Geste zufolge wollte sie lieber pano, irgendeinen Stoff, in den sie sich selbst nach Belieben wickeln oder ihr Kind damit auf dem Rücken festbinden konnte. Sicher war Stoff auch hilfreich für die Nacht, deckte den Körper zu, oder auch zwei. Jedenfalls besser, als die schön gemusterte Jacke, die nur für einen einzigen Menschen taugte, nur für den Tag geschaffen war und nur für einen Teil des frierenden Körpers reichte.
Der Junge schien nicht so weltfremd, er würde sich sicher über den farbenfrohen Pullover freuen, dachte ich. Mir war das gute Stück von jeher zu auffällig gemustert, zumindest für eine Frau um die vierzig mit schlichtem Selbstverständnis. Irgendwann in diesem Land und mit ungeeigneten Waschmitteln war er beim Waschen auch noch eingelaufen. Es fiel also nicht schwer, auf diesen Pullover zu verzichten. Ich zog ihn erst aus der Tasche, als Enkembe vor mir stand. So wie ich ihn an den Körper des Jungen hielt, ging er ängstlich einen Schritt zur Seite. Es schien, als erinnerte er sich in diesem Moment an Arnes Worte über das Krokodil und gab mir zu verstehen, dass er nicht zu tauschen berechtigt sei.
»Eu nào queria trocar«, sagte ich wahrheitsgemäß, obwohl sich Hellen bereits wunderte, warum ich plötzlich nichts tauschen wollte. Die Szenerie jenseits des Zaunes hatte offenbar ihren Hang zum Protest erstickt. Zum Tauschen wäre mir, hätte ich es vorgehabt, in der Tat nicht mehr zumute gewesen. Zwar schien auch der Junge verwundert, sein Blick aber senkte sich traurig. Sanft, beinahe ehrfürchtig berührten seine zerschundenen Hände das weiche Material, das ich ihm mit Nachdruck über die Schultern legte.
»Para ti.«
»Para mi?«, flüsterte er fragend. Dabei füllten sich seine großen Augen wässrig. Wenn man will, kann man feuchte Augen bei einem heranwachsenden Kind als Ausdruck eines tapfer ertragenen Leides ansehen. Ich sah sie so, weil ich nur Freude in den Augen des Jungen erwartet hatte, den ganzen Morgen schon. Ich lächelte und schluckte schwer an dem Kloß, der meine Kehle blockierte. »Sim, sim, para ti.«
Mit kurzem Nicken gab ich ihm ein Zeichen, er solle ihn überstreifen. Enkembe zögerte und warf seine Blicke um sich, doch niemand befahl ihm, es nicht zu tun. Niemand hinter dem Zaun gab auf ihn acht. So wie er meine Hand auf seiner Schulter spürte, erstarrte er. Ich konnte nicht anders, als meinen Finger über seine Haut streichen zu lassen, behutsam doch vor den Blicken der Leute an der Hütte verborgen. Ich würgte schwer am Kloß in meinem Hals. »So para ti!« Das sollte ihm die nötige Sicherheit geben, es sei ein Geschenk nur für ihn und das könne ihm keiner mehr nehmen. Der Junge blickte auf, blinzelte mit einem lachenden Auge zu mir auf und schlüpfte ungeschickt mit vor Ehrfurcht erstarrten Gliedern durch die Ärmel, ehe sein Kopf nach einem rasanten Aufwärtsschwung der schon ringelbedeckten Arme durch die Halsöffnung schlüpfte.
Ich merkte schnell, dass sich hinter Enkembes wachem Blick etwas ganz Besonderes verbarg, etwas, das in diesem Umfeld nicht ans Tageslicht drängen durfte, wohl aber im Verborgenen loderte, genau so, wie es in meiner eigenen, überaus armen Kindheit gewesen war. Niemand durfte bemerken, wie ständige Hoffnung, wie unerfülltes Sehnen nach wahrlich winzigen Freuden die arme Kinderseele verbrannte. Am wenigsten sollte meine Mama es spüren, die sich schon viel zu sehr zu mühen hatte, um fünf hungrige Mäuler durch die Wirren der Nachkriegszeit zu bringen.
Dieser Junge wird sich von seinem widrigen Leben ebenso wenig unterkriegen lassen, da war ich sicher. Solange ich in der Nähe war, klebten seine Blicke an mir, stolz, leuchtend. Ein heimliches Flehen aber blieb. Ich musste mich zurückhalten, durfte keine Hoffnung schüren, die nicht zu halten war.
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