Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. Edward Bellamy
»Es wird sich später Zeit genug finden, das zu erklären«, antwortete mein unbekannter Wirt mit einem beruhigenden Lächeln. »Es ist besser, alles aufregende Gespräch zu unterlassen, bis Sie etwas mehr wieder Sie selbst sind. Wollen Sie die Güte haben, ein paar Schluck von diesem Trank zu nehmen? Es wird Ihnen gut tun. Ich bin Arzt.«
Ich stieß das Glas mit der Hand zurück und setzte mich auf meinem Lager auf; jedoch kostete mir das etwas Anstrengung, denn mein Kopf war sonderbar verwirrt.
»Ich bestehe darauf, erst zu erfahren, wo ich bin und was Sie mit mir gemacht haben«, sagte ich.
»Mein lieber Herr«, antwortete der Arzt, »ich muss Sie bitten, sich nicht aufzuregen. Es wäre mir lieber, Sie beständen nicht so bald auf Erklärungen; wenn Sie es nun doch nicht anders wollen, so will ich versuchen, Sie zu befriedigen, vorausgesetzt, dass Sie erst diesen Trank nehmen; er wird Sie stärken.«
So nahm ich denn den angebotenen Trank. Dann sagte er: »Es lässt sich nicht so leicht sagen, wie Sie hierher kommen, als Sie augenscheinlich denken. Sie können mir hierüber ebensoviel sagen, als ich Ihnen. Sie sind eben aus einem tiefen Schlaf oder vielmehr einer Betäubung erwacht. So viel kann ich Ihnen sagen. Sie behaupten, Sie seien in Ihrem Hause gewesen, als Sie in diesen Schlaf fielen. Darf ich fragen, wann das gewesen ist?«
»Wann?« erwiderte ich, »wann? Nun, gestern Abend natürlich, etwa um 10 Uhr. Ich hatte meinem Diener Sawyer Befehl gegeben, mich um 9 Uhr zu wecken. Was ist aus Sawyer geworden?«
»Ich kann Ihnen das nicht so genau sagen«, erwiderte jener und sah mich mit einem sonderbaren Ausdruck an, »aber ich bin überzeugt, seine Abwesenheit ist entschuldbar. Und können Sie mir nun etwas genauer sagen, wann Sie einschliefen, ich meine das Datum?«
»Nun, gestern Abend natürlich; habe ich es Ihnen nicht eben gesagt? Das heißt, wenn ich nicht einen ganzen Tag verschlafen habe. Großer Gott, das ist ja nicht möglich; und doch habe ich ein sonderbares Gefühl, als hätte ich eine gute Weile geschlafen. Es war Dekorationstag, als ich mich schlafen legte.«
»Dekorationstag?«
»Ja, Montag den 30.«
»Entschuldigen Sie, den 30. welchen Monats?«
»Nun, dieses Monats selbstverständlich, es sei denn, dass ich in den Monat Juni hineingeschlafen hätte; aber das ist eine Unmöglichkeit.«
»Jetzt haben wir September.«
»September! Sie wollen doch nicht behaupten, dass ich seit Mai geschlafen hätte! Gott im Himmel! Nein, das ist unglaublich.«
»Wir werden ja sehen«, sagte mein Wirt; »Sie sagen also, es sei am 30. Mai gewesen, als Sie sich schlafen gelegt hätten.«
»Ja.«
»Darf ich fragen in welchem Jahre?«
Unfähig zu sprechen, starrte ich ihn einige Augenblicke an.
»Ja, in welchem Jahre, wenn ich fragen darf? Wenn Sie mir das gesagt haben, werde ich imstande sein, Ihnen zu sagen, wie lange Sie geschlafen haben.«
»Es war im Jahre 1887«, sagte ich.
Mein Wirt bestand darauf, dass ich noch einmal von dem Glas trinken sollte, und fühlte mir den Puls.
»Mein lieber Freund«, sagte er, »Ihr Benehmen zeigt mir, dass Sie ein Mann von Bildung sind, was in Ihren Tagen keineswegs so selbstverständlich war, als es jetzt ist. Zweifellos haben Sie also die Beobachtung gemacht, dass man in dieser Welt ein Ding nicht wunderbarer nennen kann als ein anderes. Denn jede Wirkung steht im direkten Verhältnis zu ihrer Ursache. Dass Sie von dem, was ich Ihnen zu sagen habe, sehr überrascht sein werden, ist zu erwarten; aber ich habe das Zutrauen zu Ihnen, dass Sie dadurch Ihren Gleichmut nicht verlieren werden. Sie erscheinen wie ein junger, kaum dreißigjähriger Mann und Ihre Körperbeschaffenheit scheint nicht wesentlich von derjenigen eines Mannes verschieden zu sein, der eben aus einem etwas zu langen und tiefen Schlaf erwacht ist, und doch ist heute der 10. September des Jahres 2000, und Sie haben grade 113 Jahre, 3 Monate und 11 Tage geschlafen. Da ich mich etwas betäubt fühlte, trank ich auf Empfehlung meines Arztes eine Tasse einer Art Bouillon, worauf ich sofort sehr schlaftrunken wurde und in einen tiefen Schlaf fiel.
Als ich erwachte, strahlte das Zimmer, das bei meinem ersten Erwachen künstlich erleuchtet war, im hellen Tageslicht. Mein geheimnisvoller Wirt saß neben mir. Er sah mich nicht an, als ich die Augen aufschlug; so hatte ich eine gute Gelegenheit, ihn zu betrachten und über meine ungewöhnliche Lage nachzudenken, ehe er bemerkte, dass ich wach war. Mein Schwindel war vergangen und mein Geist vollkommen klar. Die Geschichte, dass ich 113 Jahre geschlafen haben sollte, die ich in meinem früheren schwachen und verwirrten Zustand ohne Frage hingenommen hatte, kam mir jetzt wieder als eine abgeschmackte Mystifikation vor, über deren Motiv ich mir keine Klarheit verschaffen konnte.
Etwas Außergewöhnliches musste sich jedenfalls ereignet haben, das mein Erwachen in diesem fremden Hause bei diesem Unbekannten erklärte, aber meiner Phantasie war es rein unmöglich, mehr zu tun, als ins Blaue hinein zu raten. War es möglich, dass ich das Opfer einer Verschwörung geworden wäre? Es sah wirklich danach aus, und doch war es sicher, dass, wenn menschliche Züge jemals die Wahrheit gesprochen haben, dieser Mann neben mir, mit seinem so feinen und geistvollen Gesicht, nicht Teilnehmer an einem Verbrechen oder Frevel sein konnte. Dann fragte ich mich, ob ich nicht die Zielscheibe eines Scherzes von Seiten meiner Freunde sein könnte, die auf irgendeine Weise hinter das Geheimnis meines unterirdischen Zimmers gekommen wären und mir auf diese Weise die Gefahr, die mit diesen mesmerischen Versuchen verbunden sei, beweisen wollten. Diese Annahme war sehr unglaublich; Sawyer würde mich nie verraten haben, auch hatte ich keine Freunde, die so etwas zu unternehmen gewagt hätten; nichtsdestoweniger war die Annahme, dass man sich einen Scherz mit mir gemacht, die einzig haltbare. Ich erwartete jeden Augenblick hinter einem Stuhl oder Vorhang hervor ein bekanntes Gesicht grinsen zu sehen und sah mich im Zimmer um. Als meine Augen zunächst auf meinen Wirt fielen, sah er mich an.
»Sie haben zwölf Stunden schön geschlafen«, sagte er erfreut, »und ich sehe, es hat Ihnen gut getan. Sie sehen viel besser aus; Ihre Farbe ist gut, Ihr Auge klar; wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe mich nie besser gefühlt«, erwiderte ich und setzte mich auf.
»Sie erinnern sich zweifellos Ihres ersten Erwachens«, fuhr er fort, »und Ihres Erstaunens, als ich Ihnen sagte, wie lange Sie geschlafen hätten.«
»Sie sagten, glaube ich, ich hätte 113 Jahre geschlafen.«
»Ganz recht.«
»Sie werden zugestehen«, sagte ich mit einem spöttischen Lächeln, »dass diese Geschichte etwas unwahrscheinlich klingt.«
»Ungewöhnlich, das gebe ich zu«, antwortete er, »aber unter den richtigen Vorbedingungen nicht unwahrscheinlich, auch nicht im Widerspruch mit dem, was wir von dem Betäubungszustand wissen. Wenn er vollständig ist, wie in Ihrem Falle, wird die Lebenstätigkeit vollständig aufgehoben, und es tritt keine Zerstörung der Gewebe ein. Wenn die äußeren Bedingungen den Körper vor physischer Verletzung schützen, kann man gar nicht sagen, wie lange eine solche Betäubung dauern kann. Die Betäubung, in der Sie gelegen, ist allerdings die längste, von der wir je gehört haben; aber wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Sie nicht noch undenkliche Zeiten in einem Zustand gehemmter Lebenstätigkeit hätten bleiben können, wären Sie nicht gefunden worden und wäre der Raum, in dem wir Sie fanden, unberührt geblieben; die allmähliche Abkühlung der Erde würde dann das Zellengewebe zerstört und den Geist befreit haben.«
War ich wirklich Gegenstand eines Scherzes geworden, so musste ich zugestehen, dass die Urheber desselben ein ausgezeichnetes Werkzeug zur Ausführung gewählt hatten. Dieser Mann hätte mit seiner eindringlichen und sogar beredten Sprache beweisen können, dass der Mond ein Käse sei. Das Lächeln, mit dem ich seine Betäubungshypothese aufnahm, brachte ihn nicht im mindesten in Verlegenheit.
»Wollen Sie nicht fortfahren«, sagte ich, »und mir die genaueren Umstände erzählen, unter welchen Sie das Zimmer, von dem Sie sprachen, gefunden haben. Ich bin ein Freund von gut erfundenen