Hinter verborgenen Pfaden. Kerstin Hornung
ausstrahlte.
»Ach, heut schon«, murmelte Edeltrud.
Feodor steuerte den Wagen an ihr vorbei, um ihn in den Schuppen zu schieben, da streckte sie die Hand nach der Plane aus.
»Sag mal Feodor, ist das mein Rechen da auf deinem Wagen?«
Philips Herzschlag setzte für zwei Takte aus. Aber sein Vater war auf Zack und schob den Wagen wie zufällig in die andere Richtung, so dass Edeltrud das Ende der Plane nicht zu fassen bekam.
»Tut mir leid«, knurrte er. »Den hast du dermaßen verbogen, das dauert noch.« Den kurzen Moment, den sie brauchte, um sich ihrer Freundin zuzuwenden und verschwörerisch zu grinsen, nutzte er, um den Karren durch die Schuppentür zu schieben und diese hinter sich zu schließen.
»Feodor!«, rief Edeltrud aufgebracht.
Philip hatte nicht einmal Zeit, erleichtert durchzuatmen, als sie sich schon zu ihm umdrehte.
»Was ist denn mit dem los?«
»Nichts«, antwortete Philip so unschuldig wie möglich.
»Früher hat er nie so lange gebraucht, um mein Werkzeug zu reparieren. Und dann versteckt er sich auch noch in seinem Schuppen!« Sie rüttelte an der Schuppentür. »Feodor!«
»Er hat …« Hektisch suchte Philip nach einer Ausrede, mit der sich dieses Weib zufriedengeben würde. »Er ist krank … Fieber! Schon seit Tagen. Vermutlich ist es ansteckend.«
Edeltrud wich einen Schritt zurück.
»Ich muss gehen, Mutter hat gesagt, er muss ins Bett … Tut mir leid, wegen des Rechens …«, stammelte er, eilte ins Haus und drückte eiligst die Tür zu.
Er hörte noch, wie Edeltrud zu ihrer Freundin sagte: »Das kommt davon, weil der Bub immer noch zur Schule geht. Den hätt der Feodor schon vor Jahren in die Lehre nehmen können. Stattdessen …«, dann hatte er den Riegel von innen zugeschoben und rannte durch die Hintertür hinaus und in den Schuppen.
Im dämmrigen Licht sah er seinen Vater das Werkzeug vom Wagen heben.
»Das ist wirklich ihr verdammter Rechen«, brummte er, ohne sich umzudrehen.
Philip blieb andächtig vor dem Wagen stehen. Das Kind war wach und bewegte unbeholfen seine Ärmchen, gab aber keinen Ton von sich.
»Wo legen wir sie jetzt hin?«, überlegte Feodor.
»In meine Kammer, da haben sie Ruhe. Ich kann ja bei den Zwillingen schlafen«, schlug Philip vor. Die Aussicht mit Jaden und Jaris ein Zimmer zu teilen, war zwar nicht sehr erbaulich, aber für diese goldhaarige Fee war er zu jedem Opfer bereit.
»Also gut, hilf mir, sie vom Wagen zu heben, dann trage ich sie rauf. Du bringst den Säugling.« Der Vater nahm das Kind von ihrem Bauch und legte es behutsam zur Seite. Sofort begann es leise zu wimmern, aber für lautere Töne schien ihm zum Glück die Kraft zu fehlen.
Vorsichtig zogen Feodor und Philip die Fee an den Rand des Wagens. Sie öffnete kurz die Augen, als Feodor seinen Arm unter ihre Schultern schob. Ihr Kopf sank kraftlos gegen seine Brust. Philip raffte mit zitternden Händen ihr blutiges Kleid, bis der Vater den anderen Arm unter ihre Beine geschoben hatte. Er wünschte sich, er könnte dieses Wesen genauso in seinen Armen halten. Wehmütig sah er seinem Vater nach, bis er hinter der nächsten Tür verschwunden war.
Das Kind begann zu weinen, und Philip besann sich auf seine Aufgabe. Vorsichtig hob er das winzige Geschöpf hoch. Bisher hatte er ihm wenig Beachtung geschenkt, doch als er es jetzt ansah, hörte es auf zu greinen und blickte ihm aus veilchenblauen Augen entgegen.
Als die Zwillinge zur Welt gekommen waren, war Philip zwölf Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich noch gut an diese Zeit. Er konnte sich aber nicht erinnern, dass sie ihn jemals so angesehen hätten.
»Ich helfe dir.« Es war ein Versprechen. Ein Gelübde, ähnlich dem, das zur Weihe eines Kindes am Tag der Wintersonnwende in der Kirche abgelegt wurde. Und es war nicht weniger bindend. Zufrieden gähnte das Kind, und Philip folgte dem Vater die schmale Treppe hinauf.
Dieses Feenwesen in seinem Bett zu sehen brachte Philip ein weiteres Mal vollends durcheinander. Einerseits war er froh und stolz und sehr zufrieden mit seiner Rolle als Zweitretter und edelmütiger Kavalier, der sein Schlafgemach hergab, andererseits war er verlegen und wusste nicht, ob dieses wunderschöne, edle Wesen nicht deutlich bessere Betten gewohnt war. Außerdem fürchtete er, dass er und sein Vater etwas falsch machen könnten. Etwas, was womöglich ihren Tod bedeuten würde.
»Leg das Kind wieder auf ihren Bauch«, sagte Feodor. Philip sah den Säugling noch einmal an, und wieder begegnete ihm dieser klare, wissende Blick. Auch als das Kind auf dem Bauch seiner Mutter lag, ließ es Philips Blick nicht los.
»Mach’s gut, Elbchen«, flüsterte er und strich ihm sanft über die Wange. Dann trat er einen Schritt zurück und überließ alles Weitere seinem Vater.
Gemeinsam verließen sie wenig später das Zimmer. Hinter der Tür blieben sie stehen und sahen sich an. Sie hatten es geschafft. Sie hatten eine Elbin und ihr Kind, ungesehen von Passanten und adleräugigen Tratschweibern, in ihr Haus gebracht. Alle Anspannung der letzten Stunden fiel von ihnen ab. Plötzlich mussten sie lachen.
»Und jetzt stehlen wir das Nachthemd des Königs«, witzelte Philip.
»Aber das wird dem nackten Kind nicht passen«, gab Feodor trocken zurück und schlug Philip mit der flachen Hand anerkennend auf den Oberarm. »Lass uns auf dem Dachboden nachsehen, was von euren Hemdchen und Windeln dort noch herumliegt.«
Der staubig stickige Geruch auf dem Dachboden begrüßte Philip und erinnerte ihn daran, dass er erst vor wenigen Stunden hier gelesen hatte. Damals erschien ihm hier alles, wie ein verborgenes Paradies, jetzt erdrückte ihn die Hitze, die sich unter den Schindeln staute.
Zielstrebig steuerte sein Vater direkt auf das verborgene Deckennest zu und öffnete den ersten windschiefen Schrank. Philip wusste, dass in dem Schrank nichts weiter als ein dreibeiniger Stuhl stand. Trotzdem schaute er seinen Vater in der Hoffnung auf ein Wunder über die Schulter.
»Da steht der Stuhl also. Erzähl bloß deiner Mutter nicht, dass wir ihn gefunden haben, sonst muss ich dieses marode Erbstück doch noch reparieren …«
»Meine Lippen sind versiegelt.«
Der Vater riss die nächste Schublade auf und kam, weil er auch darin nicht fündig wurde, immer näher an Philips Versteck heran. Dass seine Mutter wusste, wo er sich versteckte, war seit heute klar, aber in wenigen Minuten würde auch der Vater das Geheimnis kennen, dachte Philip wehmütig.
Er durchstöberte gerade sämtliche Schubladen, ohne jedoch weiter auf das Deckennest zu achten.
Philip hielt den Atem an, als er plötzlich die Schublade herauszog.
»Pal’dor«, las der Vater laut.
»Ich … äh …«, stammelte Philip. Aber Feodor hatte das Buch bereits zurückgelegt.
»Das Buch solltest du lesen. Vielleicht steht etwas drin, was wir wissen müssen.«
Etwas verdutzt schaute Philip seinen Vater an. »Lehrer Theophil hat es mir erst heute mitgegeben.«
»Weiser Theophil! Ich glaube ja schon lange, dass er ein klein wenig in die Zukunft sehen kann.«
Plötzlich entdeckte Philip in einer Nische etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Ich hab was«, rief er und zerrte eine verstaubte Wiege hervor.
»Wo die ist, wird bestimmt auch der Rest sein.« Feodor begann die Schränke in der Nähe zu durchwühlen und fand bald darauf einen Leinensack, in dem viele kleine Hemdchen und Wickeltücher eingelagert waren.
Mit reicher Beute stiegen sie die Treppe hinunter und breiteten alles auf dem Küchentisch aus. Obwohl die Sachen in einem Leinensack im Schrank aufbewahrt worden waren, war das meiste ziemlich angestaubt. Feodor kratzte sich am Kopf und begann die Kleidung zu sortieren. Als er alles hatte, was er brauchte, klemmte er es