Hinter verborgenen Pfaden. Kerstin Hornung

Hinter verborgenen Pfaden - Kerstin Hornung


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Pfad, der an einem kleinen Mäuerchen entlangführte. Dann lief er ein paar Schritte bergan über die Streuobstwiese. Von der leichten Erhebung aus konnte er die Trauerweide am Ufer des Teiches sehen. Es war ein mächtiger Baum, dessen Äste bis ins Wasser hingen und die dadurch ein wunderbares Versteck vor neugierigen Blicken boten.

      Früher war er selbst gerne dort gewesen und hatte sich eingebildet, dass ihn niemals jemand dort finden könnte. Doch dann war Jacob zur Welt gekommen, nur ein Jahr später Johann. Beide hatten sich an seine Fersen geheftet, sobald sie laufen konnten, und mit der Ruhe war es vorbei. Wenn Philip aus der Schule kam, warteten die beiden schon auf der Türschwelle und ließen ihn nicht mehr aus den Augen, bis sie abends im Bett lagen. Er hatte sie geärgert, bis sie heulten, oder war ihnen, so schnell er konnte, davongerannt. Sie ließen sich einfach nicht abschütteln.

      Mit der Geburt von Josua änderte sich einiges. Winzig klein kam er an Philips achtem Geburtstag zur Welt. Eine Frühgeburt. Die Mutter brauchte lange, um sich von den Strapazen zu erholen. Da sie sich kaum um Josua kümmern konnte, bedurfte der Kleine die Aufmerksamkeit der gesamten Familie.

      Oftmals wimmerte er den ganzen Tag über und ließ sich durch nichts und niemanden davon abbringen. Während Philips andere Brüder jedes Mal, wenn man in ihr Körbchen sah, wieder ein Stückchen gewachsen waren, blieb Josua winzig. Oft weinte Mutter, wenn sie ihn stillte.

      Doch eines Tages begann auch Josua seine Umgebung genauer zu beobachten, versuchte sein Köpfchen zu heben, und an seinem ersten Geburtstag stand er plötzlich im Bettchen.

      Dreieinhalb Jahre später stellte die Geburt der Zwillinge noch einmal den Familienalltag auf den Kopf.

      Inzwischen hatte er die Weide erreicht, aber er konnte weder Josua noch die Zwillinge sehen. Plötzlich sprang ihm etwas auf den Rücken, während gleichzeitig seine Beine umklammert wurden. Philip strauchelte und fiel kopfüber in den Teich.

      »Seid ihr vollkommen verrückt geworden?«, schimpfte er los, kaum, dass er seinen Kopf aus dem Wasser gezogen hatte. Die braunen Haare hingen ihm nass ins Gesicht, und er funkelte Jaris und Jaden aus seinen grünen Augen wütend an. »Wenn Mutter erfährt, dass ihr weggelaufen seid, zieht sie euch den Hosenboden stramm!«

      »Sie ist sowieso nicht zu Hause«, antwortete Jaris frech.

      »Ach ja! Was du alles weißt.«

      »Da kam dieser Hinkebein-Mann, der wollte, dass sie mitgeht und da …«

      »Habt ihr euch gedacht, dass dies die beste Gelegenheit ist, was Verbotenes zu tun?«, beendete Philip den Satz. »Habt ihr zwei Josua gesehen?«

      »Nööö!«

      »Jaaa!«, antworteten die Zwillinge im Chor.

      Ach so, dachte Philip bei sich, den haben sie also vertrieben.

      »Dann müsst ihr mir helfen, ihn zu suchen.«

      Jaris und Jaden wollten gerade damit beginnen, sich jammernd über diese Ungerechtigkeit zu beschweren, als Philip sie barsch unterbrach.

      »Ansonsten erzähle ich Mutter, wo ich euch gefunden habe«, drohte er.

      Missmutig fügten sich die Zwillinge.

      Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zum Haus, denn sie brauchten alle erstmal trockene Kleidung.

      Philip vermutete, dass er Josua, nachdem die Zwillinge ihn am Teich verscheucht hatten, im alten Turm finden würde.

      Der verfallene Turm war der einzige noch übrig gebliebene Wehrturm der alten Stadtmauer.

      Stand man ganz oben, konnte man über die Mauer hinweg den Alten Wald sehen und hatte gleichzeitig einen atemberaubenden Blick auf die Stadt.

      Das war jedoch nicht der Grund, warum Josua und sein Freund Lennart sich hierher zurückgezogen hatten.

      Für die beiden Siebenjährigen bedeutete der Turm ein sicheres Versteck, wo sie ungestört waren. Die unterste Stufe war hoch genug, so dass Jaris und Jaden sie nicht erreichen konnten, und Lennarts Schwestern machten um den Turm einen großen Bogen, seit sie gehört hatten, dass es darin spukte.

      Philip schwang sich auf die unterste Stufe des Turmes und kletterte die bröckelnden Treppen nach oben. Er fand Josua und Lennart im alten Wächterhäuschen, wo sie völlig versunken waren in ihr Spiel mit Holztieren und Rittern.

      »Was los?«, fragte Lennart.

      Josua antwortete an Philips Stelle. »Er schaut bloß, wo ich bin.«

      »Sieh zu, dass du pünktlich zum Abendessen zu Hause bist«, forderte Philip seinen Bruder auf und ging. Nach den zwei Älteren Jacob und Johann musste er nicht suchen. Die konnten überall sein, aber wenn er schon mal hier war, wollte er den Rückweg über den Kirchenanger nehmen. Auf dem Platz stand ein alter Kirschbaum, der jede Menge Früchte trug. Dass der noch nicht leergeplündert war, lag einzig und allein an seiner stattlichen Größe. Philip beschloss, sich mit den Zwillingen ein paar Kirschen zu holen.

      Schon von Weitem sah er, dass sich eine Horde Kinder um den Baum drängte, und als er dort ankam, erreichte sein Bruder Jacob gerade den untersten Ast des Kirschbaums. Johann saß bereits in einer höhergelegenen Astgabel und angelte nach Kirschen. »Was sagst du dazu?«, rief Johann stolz.

      »Toll«, knurrte Philip. »Jetzt werde ich nie mehr rechtzeitig hier sein, um auch nur eine Kirsche abzubekommen.«

      »Eine kann ich dir schon mitbringen«, gab Jacob grinsend zurück.

      Philip sah hoch zu Johann.

      »Wirf deinen kleinen Brüdern mal ein paar von den Kirschen ’runter.«

      »Wir sind nicht klein!«, brüllten die Zwillinge im Chor.

      »Dann klettert doch selbst hier hoch, ihr Zwerge.«

      Das brauchte Johann nicht zweimal sagen, denn schon versuchte Jaris sich am Baumstamm hochzuziehen, während Jaden von unten kräftig schob.

      »Ihr seid mutig, das muss belohnt werden«, beschloss Jacob, hangelte sich noch ein paar Äste weiter nach oben und zupfte für jeden seiner kleinen Brüder eine Handvoll Kirschen ab.

      Doch statt auch Philip ein paar Kirschen zuzuwerfen, stopfte er alle weiteren Früchte, die er pflückte, sofort in sich hinein. Das Wasser lief Philip im Mund zusammen.

      Wenn er Kirschen wollte, musste er sie sich selbst holen. Er sprang, griff den untersten Ast des Baumes und zog sich an ihm hoch. Eichhörnchenflink stieg er den sonnenreifen Köstlichkeiten entgegen, pflückte sich so viele wie möglich in den Mund und verstaute einige in seinem Hemd, ehe er vom Baum heruntersprang.

      »So ihr beiden«, rief er seinen kleinen Brüdern zu, »jetzt geht’s ab nach Hause.«

      Jaris maulte, Jaden jammerte, bis Philip versprach, zuhause eine Geschichte von den Waldfeen zu erzählen.

      »Ich will die mit den Schiffen und dem Meer!«, bestimmte Jaden energisch.

      »Ihr wollt also die Geschichte hören, wie die Elben ihre Schiffe bauten und mit ihnen über das Meer fuhren, um sich die ganze Welt zu unterwerfen?«

      Die Zwillinge nickten eifrig.

      Philip hatte diese Geschichte schon hundert Mal erzählt und sie hing ihm zum Hals heraus. Es gab so viele Geschichten über die Feen, die auch Elben genannt wurden. Viele dieser Geschichten standen in engem Zusammenhang mit dem Alten Wald. Diese liebte Philip am meisten. Der Alte Wald, das Geheimnis vor der Haustür, faszinierte ihn und er beneidete seinen Vater, der der Einzige in der Familie war, der den Wald betreten durfte. Die Geschichten, die man sich in der Stadt über den Wald erzählte, hatten es allerdings alle in sich und so verstand er auch, warum seine Mutter das Betreten des Waldes absolut verboten hatte. Zu viele Menschen, die in den Wald gegangen waren, waren nie wieder gesehen worden, und Gründe dafür gab es so viele, wie Leute, die davon erzählten. Selbst jene, die sich vor der langen Hand des Königs versteckten, hielten sich nur in den Randgebieten auf.

      Philip überlegte, wie er seine Brüder davon überzeugen


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