Nils Holgerssons wunderbare Reise. Selma Lagerlöf

Nils Holgerssons wunderbare Reise - Selma Lagerlöf


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zu beiden Seiten des Baches liegt, sieht so aus, als habe sie Gestalt nach dem Erdboden angenommen, auf dem sie gebaut ist. Auf der grünen Seite des Tals liegen alle die Gebäude, die ein zierliches oder ansehnliches Äußere haben. Da liegen zwei Kirchen, das Rathaus, die Wohnung des Landeshauptmanns, das Bergwerkkontor, zwei Banken, die Hotels, die vielen Schulen, das Krankenhaus und alle die schönen Villen und Häuser. Auf der schwarzen Seite dahingegen liegen Straße auf und Straße ab kleine, rotgemalte, einstöckige Häuser, lange, trübselige Bretterzäune und große, schwere Fabrikgebäude. Und jenseits der Straßen, mitten in der großen Steinwüste, liegt die Grube von Falun mit Grubenwinde und Kränen und Pumpenwerken, mit altmodischen Gebäuden, die auf dem untergrabenen Erdboden stehen und einzustürzen drohen, mit großen, steilen Schlackenbergen und langen Reihen von Schmelzöfen ringsumher.

      Bataki pflegte nie einen Blick auf den östlichen Teil der Stadt zu werfen und auch nie auf den schönen See Varpan. Um so inniger aber liebte er den westlichen Teil und den keinen See Tisken.

      Der Rabe liebte alles, was geheimnisvoll war, alles, was ihm Gelegenheit gab, zu grübeln und zu sinnen und seine Gedanken in Bewegung zu setzen, und auf der schwarzen Seite der Stadt fand er das zur Genüge. So war es ein großes Vergnügen für ihn gewesen, den Versuch zu machen, zu ergründen, warum diese alte, rote, hölzerne Stadt nicht abgebrannt war so wie alle die anderen roten, hölzernen Städte im Lande. Ebenso hatte er sich selbst gefragt, wie lange die dem Einsturz nahen Häuser am Rande der Grube wohl noch stehenbleiben konnten. Er hatte über die mächtige Öffnung in der Erde, mitten auf dem Grubenfeld nachgegrübelt und war ganz bis auf ihren Grund hinabgeflogen, um zu untersuchen, wie dieser ungeheure, leere Raum entstanden sein mochte. Er war in Erstaunen geraten über die hohen Schlackenhaufen, die rings um diese Öffnung und die Grubengebäude lagen und sie wie Mauern umgaben. Er hatte versucht, ausfindig zu machen, was die kleine Signalglocke, die das ganze Jahr hindurch kurze, unheimliche Glockenschläge mit bestimmten Zwischenräumen schlägt, zu bedeuten hatte, und zuerst und zuletzt hatte er darüber nachgesonnen, wie es wohl unter der Erde aussah, da, wo man seit vielen hundert Jahren Kupfererz gebrochen hatte, und wo die Erde so voll von Gängen war wie ein Ameisenhaufen. Als es Bataki endlich gelungen war, sich einigermaßen Klarheit über dies alles zu verschaffen, schwebte er über der unheimlichen Steinwüste hin, um darüber nachzudenken, warum kein Gras zwischen den großen Steinen wuchs, oder auch er flog nach dem Tisken hinab. Dieser See erschien ihm der wunderbarste, den er jemals gesehen hatte. Wie konnte es zugehen, daß er ganz ohne Fische war, und daß sein Wasser zuweilen, wenn der Sturm es aufpeitschte, ganz rot wurde? Das war um so wunderbarer, als ein großer Grubenbach, der aus dem See entsprang, schimmernd gelbes Wasser hatte. Er grübelte über die Ruinen der zerstörten Gebäude nach, die noch am Ufer lagen, und über das kleine Gehöft Tiskmöllen, das von grünen Gärten umgeben und im Schatten großer Bäume zwischen der öden Steinwüste und dem merkwürdigen See lag.

      In dem Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen durch das Land zog, lag am Ufer des Tisken, eine Strecke vor der Stadt, ein altes Haus, das die Schwefelsiederei genannt wurde, weil dort in jedem zweiten Jahr ein paar Monate Schwefel gekocht wurde. Es war ein verfallenes Haus, das einstmals rot gewesen, allmählich aber graubraun geworden war. Es hatte keine Fenster, sondern nur eine Reihe Luken mit schwarzen Läden davor, und es stand fast immer fest verschlossen. Niemals hatte Bataki einen Blick in dies Haus werfen können, und deswegen grübelte er über nichts soviel nach. Er hüpfte auf dem Dach herum, in der Hoffnung ein Loch zu finden, durch das er hineingucken konnte, und er saß oft oben auf dem hohen Schornstein und guckte in die schwarze Öffnung hinein.

      Eines Tages erging es Bataki sehr übel. Ein starker Sturm hatte gehaust und eine Luke in der alten Schwefelsiederei aufgeweht. Bataki hatte die Gelegenheit benutzt und war in die Luke hineingeflogen, um sich im Hause umzusehen. Aber kaum war er hineingelangt, als die Luke hinter ihm zugeschlagen wurde, so daß er eingeschlossen war. Er hoffte, der Wind könne die Luke wieder aufwehen, aber es schien gar nicht, als wenn er die Absicht habe.

      Durch die Ritzen in den Wänden fiel eine Menge Licht, und Bataki hatte wenigstens das Vergnügen, zu erfahren, wie es da drinnen aussah. Da war nichts weiter als ein großer Ofen mit einigen eingemauerten Kesseln und daran sah er sich bald satt. Aber als er wieder hinaus wollte, erwies sich das noch immer als unmöglich. Der Wind wollte die Luke nicht wieder aufwehen. Auch nicht eine einzige Tür oder Luke stand offen. Der Rabe war ganz einfach im Gefängnis.

      Bataki begann um Hilfe zu schreien und schrie den ganzen Tag. Es gibt gewiß kein Tier, das einen so unaufhörlichen Lärm machen kann wie die Raben, und bald verlautete es in der Umgegend, daß er gefangen sei. Der graugestreifte Kater aus Tiskmöllen war der erste, der von dem Unglück hörte. Er erzählte es den Hühnern, und die riefen es den vorüberfliegenden Vögeln zu. Bald wußten alle Dohlen und Tauben und Krähen und Spatzen in ganz Falun, was geschehen war. Sie flogen sofort nach der alten Schwefelsiederei, um die Sache näher zu untersuchen. Sie hatten großes Mitleid mit dem Raben, niemand aber konnte ausfindig machen, was zu tun sei, um ihm zu helfen.

      Plötzlich aber rief Bataki mit seiner scharfen, bissigen Stimme: »Schweigt alle still da draußen und hört mich an! Da ihr sagt, daß ihr mir gerne helfen wollt, so fliegt aus und sucht die alte Wildgans Akka von Kebnekajse und ihre Schar. Ich vermute, sie sind zu dieser Jahreszeit in Dalarna. Erzählt Akka, wie es mit mir steht. Ich glaube, die einzige, die mir helfen kann, ist sie und ihre Schar.«

      Die Brieftaube Agar, die der beste Sendbote im Lande war, traf die Wildgänse am Ufer des Dalelfs, und als es dunkelte, kamen sie und Akka und ließen sich auf dem Dach der Schwefelsiederei nieder. Däumeling saß auf Akkas Rücken, aber die anderen Reisekameraden waren auf einem Werder im Runn zurückgeblieben, da Akka meinte, sie würden mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften, falls sie mit nach Falun kämen.

      Als sich Akka mit Bataki beraten hatte, nahm sie Däumeling auf den Rücken und flog mit ihm nach einem Gehöft, das ganz in der Nähe der Schwefelsiederei lag. Sie flog ganz langsam über den Garten und die Birkenhaine, die den kleinen Hof umgaben, und sie wie auch der Junge starrten auf die Erde nieder. Es war leicht zu sehen, daß hier Kinder waren, die im Freien spielten, und es währte auch nicht lange, bis sie fanden, was sie suchten. In einem kleinen munteren Bach klapperten eine Menge kleiner Mühlenwerke, und in der Nähe davon fand der Junge ein Stemmeisen. Auf zwei Böcken lag ein halbfertiges Kanu, und daneben entdeckte er einen kleinen Knäuel Bindfaden.

      Mit diesen Gegenständen flogen sie nach der Schwefelsiederei zurück. Der Junge befestigte den Bindfaden am Schornstein, ließ es in das tiefe Loch hineinfallen und enterte daran hinab. Als er Bataki guten Tag gesagt hatte, der ihm mit vielen hübschen Worten dankte, daß er gekommen war, machte er sich daran, mit dem Stemmeisen ein Loch in die Wand zu schlagen.

      Es waren keine dicken Wände in der Schwefelsiederei, aber mit jedem Hieb schlug der Junge nicht mehr los als einen Span, der so klein und dünn war, daß eine Maus ihn ebensogut mit ihren Vorderzähnen hätte abnagen können. Es war klar, daß er die ganze Nacht werde arbeiten müssen und vielleicht noch länger, ehe er das Loch so groß gemacht hatte, daß der Rabe hindurchschlüpfen konnte.

      Bataki hatte eine solche Sehnsucht, hinauszukommen, daß er nicht schlafen konnte, sondern neben Däumeling saß, der arbeitete. Anfangs war der Junge sehr fleißig, als aber eine kleine Weile vergangen war, bemerkte der Rabe, daß die Schläge in immer größeren Zwischenräumen kamen, und schließlich hörten sie ganz auf.

      »Du bist gewiß müde,« sagte der Rabe. »Du kannst es vielleicht nicht mehr aushalten, weiter zu arbeiten?«

      – »Nein, müde bin ich nicht,« sagte der Junge und begann von neuem mit dem Eisen zu arbeiten, »aber ich weiß wirklich nicht, wie lange es her ist, seit ich eine Nacht ordentlich geschlafen habe. Ich weiß nicht, wie ich mich wachhalten soll.«

      Nun ging ihm die Arbeit eine Weile schnell von der Hand, dann aber fielen die Schläge langsamer und langsamer. Der Rabe weckte den Jungen abermals, aber er sah bald ein, daß wenn er nichts ersinnen konnte, womit er den Jungen wach zu halten vermochte, er nicht nur diese Nacht, sondern auch den ganzen nächsten Tag bleiben mußte, wo er war.

       »Vielleicht geht dir die Arbeit besser von der Hand, wenn ich dir eine Geschichte erzähle,« sagte er. – »Das ist


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