Das verlorene Seelenheil. R. S. Volant
war zwar gegen den noch ein Waisenknabe, hatte aber auch seine Freiheiten Euch gegenüber und Ihr wart immer voller Nachsicht ihm gegenüber. Aber ich? Was bin ich für Euch? Richtig, nur ein Dienstbote und die sind ersetzbar! Das galt jedoch nie für mich! Ich war gerne in Euren Diensten, aus ehrlicher Liebe zu Euch und habe mein Leben gerne für Euch aufgegeben aber ich möchte nicht irgendwann als alter verbitterter Diener enden, für den man nur noch das Gnadenbrot übrighat. Verzeiht Eure Majestät, aber ich kann nicht länger in Euren Diensten stehen! Vielleicht hätte ich ja auch einfach frecher und dreister Euch gegenüber sein sollen, wer weiß, aber so bin ich nicht“, meinte er bedauernd, drehte sich um und ging.
Henry starrte ihm vollkommen fassungslos nach und Laurin schlich sich an ihm vorbei. „Ich räum dann mal ab, ja?“, meinte er vorsichtig, schnappte sich das Frühstückstablett und stahl sich hinaus.
Mit einem ungläubigen Kopfschütteln ging Henry hinüber ins Schlafzimmer und setzte sich erst einmal aufs Bett. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, murmelte er vor sich hin. „Und jetzt?“ Seufzend stand er wieder auf und begann sich selbst zu entkleiden. Er zog sich seinen Morgenmantel an, schlurfte entnervt zurück zur Türe und öffnete sie. „Lasst niemanden mehr durch!“, befahl er den Wachen und die nickten salutierend. Henry knallte die Tür wieder zu, marschierte wieder ins Schlafgemach und blickte säuerlich in den vollen Nachttopf, da er sich vor dem zu Bett gehen nochmals erleichtern wollte. „So eine verdammte Scheiße!“, schimpfte er und hätte das Ding am liebsten davongeschossen. Kurzerhand hob er die Schüssel hoch und war schon versucht den Inhalt einfach aus dem Fenster zu kippen, doch dann besann er sich doch noch. Auch, weil er sich schlichtweg ein wenig schämte. Wie würde das denn wieder aussehen, wenn ihn dabei jemand beobachten sollte. Der König entleert seinen eigenen Nachttopf aus dem Fenster, nein, soweit war er dann doch noch nicht gesunken! Sollte er…
Im geheimen Gemach befand sich ein eigener Abort…
Aber dafür müsste er hinübergehen…
Seit Monaten hatte er es nicht mehr betreten, warum eigentlich nicht? Es war doch leer…
Henry schnaufte tief durch und öffnete vorsichtig die verborgene Tür. Keine Fackel brannte und so nahm er den Nachttopf in die eine und eine brennende Kerze in die andere Hand. Mit einem seltsam mulmigen Gefühl in der Magengegend machte er sich auf den Weg, den Weg, den er oftmals voller Vorfreude und manchmal auch wütend beschritten hatte, hinüber zu, ihm.
Seufzend verscheuchte er die Gedanken daran und zog den Riegel der schweren Eichenholztüre zurück. Ein leichter Veilchenduft schlug ihm entgegen, als er das geheime Gemach betrat und sofort schlug ihm das Herz bis zum Hals. Dieser Duft, sein unverkennbarer Duft, wie sehr er ihn vermisst hatte, auch wenn es immer bedeutet hatte, dass es ihm nicht gut ging…
Es war stockdunkel in dem kalten Raum und so zündete er erst einmal zwei weitere der dicken Kerzen an. Erneut holte er tief Luft, um sich selbst zu beruhigen und marschierte entschlossen ins Nebenzimmer. Nachdem er den Nachttopf entleert hatte, erleichterte er sich noch und drehte sich wieder um. Nichts wie raus hier, schoss es ihm durch den Kopf und so beeilte er sich so schnell wie möglich das Gemach wieder zu verlassen. Er pustete die erste Kerze aus, damit flackerte auch die zweite heftig und irgendetwas Funkelndes fiel ihm dadurch ins Auge. Es kam vom Bett her und Henry hielt augenblicklich den Atem an, als er das goldene Etwas erkannte, in dem sich das flackernde Licht widerspiegelte. Oh nein…
Henry ging wie automatisch darauf zu und erstarrte. Das Bett war ungemacht, die Decken zerwühlt und halb zurückgeschlagen, ein Kissen zeigte noch die Mulde, die ein Kopf hinterlassen hatte und alles wirkte so, als wäre es geradeerst verlassen worden. Ob es vielleicht sogar noch nach ihm roch?
Der Armreif lag auf der anderen Seite, seiner eigenen Seite, auf seinem unberührten Kopfkissen und so beugte er sich hinüber. Dabei musste er sich mit einem Knie aufstützen und ganz plötzlich entkam ihm ein leiser Schluchzer. Er berührte das kühle Metall, griff danach und presste den Armreif gegen seine stechende Brust. Der Schmerz war so groß, dass es ihm fast die Luft nahm und er ließ sich fallen. Laut schluchzend verbarg er sein Gesicht in Amanoues nach Veilchen duftendem Kissen und wiegte sich verzweifelt weinend hin und her. Irgendwann kamen keine Tränen mehr, er zog die Decken über sich und kauerte sich wie ein Embryo zusammen.
***
Irgendetwas kitzelte ihn an der Wange, als würde eine weiche Haarsträhne darüberstreichen und er öffnete die Augen. „Kätzchen?“, krächzte Henry heiser und fuhr hoch. Doch da war niemand, er starrte verwirrt umher und erkannte im selben Augenblick, dass es wieder nur ein Traum gewesen war. Ein Traum, den er so oft schon geträumt hatte, von ihm und ihren glücklichen Zeiten und der nun endgültig geplatzt war. Amanoue war fort, das machte ihm auch der zurückgelassene Armreif unmissverständlich klar. Seinetwegen. Und er wusste noch nicht einmal, wohin.
Obwohl es sehr kalt in dem seit Wochen ungeheizten Raum war, hatte er stark geschwitzt und so fröstelte er nun, als er sich aus den wärmenden Decken schälte. Die Kerzen waren heruntergebrannt, er musste also mehrere Stunden geschlafen haben, aber wie lange? War es schon morgens? Er sollte schnellstens wieder in seine Gemächer gehen, bevor noch irgendjemand nach ihm suchen und ihn hier entdecken würde. Rasch griff er nach der obersten Decke, damit er nicht noch mehr auskühlte und legte sie sich zitternd um. Dass es die Fuchsfelldecke war, fiel ihm gar nicht auf.
Verdammt, war ihm kalt. Seine bloßen Füße fühlten sich eisig an, als er über den kalten Steinboden zurück in seine Gemächer eilte. Er setzte sich aufs Bett, ließ die Decke von seinen Schultern gleiten und starrte das goldene Armband an, das er noch immer krampfhaft in seiner rechten Hand festhielt. Langsam öffnete er die steifen Finger und betrachtete die Linien, die die Kanten in seiner Haut hinterlassen hatten. Wie in Trance legte er es sich um sein linkes Handgelenk, verschloss es sorgfältig und ohne sich noch vorher zu waschen, zog er sich rasch an. Allein.
Klar, er hatte ja auch die Anweisung gegeben, niemanden mehr hereinzulassen und wahrscheinlich stand der arme Kai schon mit dem Frühstück wartend vor der Tür. Doch dem war nicht so, denn als Henry diese öffnete, erblickte er nur die beiden Wachen. „Ist es schon morgens?“, fragte er und die Gardisten sahen ihn fragend an.
„Eure Majestät?“
„Wie spät ist es?“
„Bereits Vormittag, Eure Majestät“, antwortete einer der Soldaten verwirrt.
„Wie bitte?! Warum hat mich keiner geweckt?“, fuhr der König ihn an.
„Vergebung, Eure Majestät, aber wir haben die Weisung bekommen, niemanden zu Euch vorzulassen und, naja, es war auch niemand da“, antwortete der Mann.
„Niemand? Wieso? Was ist mit Kai? Und meinem Frühstück?“, zeterte der König sie verständnislos an und die beiden wirkten fast geknickt. „Ach, egal!“, winkte Henry ab und marschierte an ihnen vorbei. „Ich fasse es nicht“, brummte er, als er die Treppe hinabstieg und wenig später die leere Halle betrat. „Nanu? Warum ist hier keiner?“, fragte er die Wachen, die ihm selbstverständlich gefolgt waren und die sahen sich seltsam erstaunt an.
„Eure Majestät? Heute ist Samstag, da finden keine Audienzen statt“, meinte einer von ihnen.
„Ach ja! Hab ich ganz vergessen“, murmelte der König fahrig. „Naja, dann begebe ich mich eben in mein privates Audienzzimmer! Könnte mir einer von euch was zum Essen besorgen?“, fragte er, als sie dort angelangt waren und wieder sahen die sich auf diese merkwürdige Art an.
„Sofort, Eure Majestät“, antwortete diesmal der andere und marschierte die Augen verdrehend, davon.
Henry war dies nicht entgangen, allerdings sah er einfach darüber hinweg und eigentlich war er froh, in diesem Moment allein zu sein. Er machte die Türe hinter sich zu und setzte sich vor den brennenden Kamin. Warum fror er nur so? Hoffentlich hatte er sich nicht erkältet…
Aufbruchstimmung