Wahre Kriminalfälle und Skandale. Walter Brendel
Überführung von Drogentätern einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah.
Wahrscheinlich müssen viele der Frauen, die mit dem Strafbefehl das Juristengezerre um ihre Zwangslage endlich hinter sich glaubten, im Theissen-Prozess nun doch noch vor Gericht - als Zeuginnen. Soweit ihre eigenen Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen sind, haben sie ihr Recht eingebüßt, die Aussage zu Tatgeschehen und Hintergrund zu verweigern.
Albert Barner, damals 60, der Vorsitzende Richter der 1. Strafkammer, hat diesen Frauen mit "beiliegendem Freikuvert" für die Antworten einen Fragebogen von zehn Seiten Länge zugeschickt, "um Ihnen die mit einer Befragung in einer öffentlichen Hauptverhandlung verbundenen Unannehmlichkeiten nach Möglichkeit zu ersparen".
Was so rücksichtsvoll intoniert scheint, wird sich in Wahrheit zur womöglich schlimmsten Tortur für die betroffenen Frauen auswachsen. Schon die schriftlichen Fragen sparen kein intimes Detail aus.
Im Anschreiben zu der monströsen Liste von weit über hundert Fragen, die "binnen 14 Tagen" zu beantworten waren, mahnt der Richter "rein vorsorglich", dass sich die Betroffenen schon bei unvollständiger Beantwortung strafbar machen könnten.
Zu beantworten waren nicht nur Fragen nach eigenem Einkommen ("Bescheinigung über Lohn, Gehalt, Rente oder Arbeitslosenunterstützung beifügen") und Vermögen ("Sparguthaben, Grundbesitz, Aktien u.a."), sondern auch gleiche Fragen zu "Ehemann/Partner", "Erzeuger", "Kindern" und "Eltern" - jeweils "bitte Bescheinigungen beifügen".
Den Richter interessierten Schulden-Ursachen wie Gesundheitszustände, Vertrauenspersonen beim Arbeitgeber, Wohnungsgröße und Beziehungsdauer, Hausärzte alle nahen Verwandten und Betreuungsmöglichkeiten "durch Geschwister oder Freunde", am meisten aber die Frage, ob denn die Zeuginnen bereit sind, Ärzte und Schwangerschaftsberater von der Schweigepflicht zu entbinden. Und: "Durch wen wurde die Zeugin darauf hingewiesen, dass Dr. Theissen möglicherweise einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen werde?"
Frauen, die sich weigern, bei dieser Ausforschung ihrer Privatsphäre mitzuwirken, drohte Richter Barner unverhüllt: Wer eine Frage auch nur teilweise unrichtig oder unvollständig "zum Vorteil von Herrn Dr. Theissen" beantworten sollte, könne sich ein neues Strafverfahren - diesmal wegen Strafvereitelung - einhandeln.
Aber auch wer alle Fragen beantwortet, muss mit der Vorladung in den Zeugenstand rechnen. Denn jede Aussage, die von früheren Bekundungen im Vorverfahren abweicht, wird entweder Ankläger oder Verteidiger zur Vorladung dieser Zeugin veranlassen, je nachdem, ob nun die Abweichung im Einzelfall zugunsten oder zu Lasten von Dr. Theissen ausfällt - praktisch also in jedem Fall. Auch wenn nur der Staatsanwalt oder nur der Verteidiger auf der Zeugenvernehmung besteht, muss die Zeugin mündlich vernommen werden.
Entscheidend für den Prozessausgang ist die Frage, ob in den angeklagten Fällen eine Indikationslage gegeben war oder nicht. Die Ankläger sagen nein, der beschuldigte Frauenarzt sagt ja. Also muss - wenn schon, denn schon – peinlich genau Beweis erhoben werden.
Dass die meisten der betroffenen Frauen bereits mit der Begründung rechtskräftig verurteilt worden sind, eine Indikation zum Schwangerschaftsabbruch habe nicht vorgelegen, bindet die Theissen-Strafkammer nicht. Die Richter können jeden Fall nun auch anders bewerten.
Der Gynäkologe räumt ein, was nicht zu bestreiten ist: Er habe die Schwangerschaftsabbrüche ambulant vorgenommen, was nach den einschlägigen bayrischen Bestimmungen nicht sein darf. Er habe sich, sagt Theissen, stets davon leiten lassen, was für seine Patientinnen am wenigsten schädlich sei. Er verwies auf die jedenfalls außerhalb Bayerns medizinisch unumstrittene Erkenntnis, dass die auch von ihm angewandte Absaugmethode weit schonender für die Patientinnen ist als die in bayrischen Kliniken praktizierte Ausschabung.
Bis Ende 1980 hat Theissen in seiner Praxis legal ambulant abgetrieben, gestützt auf eine Bescheinigung der Kassenärztlichen Vereinigung. Dann wurden in Bayern und Baden-Württemberg ambulante Eingriffe verboten. "Ich habe mich gefragt", so Theissen, "war das nun falsch, was vor 1980 war?" Viele Frauen hätten ihm gesagt, sie fühlten sich besser aufgehoben, wenn "alles in einer Hand liegt".
Jede der Frauen, die von ihm Hilfe wollten, habe er darauf hingewiesen, dass sie nach der Gesetzeslage vor dem Abbruch der Schwangerschaft erst eine Beratungsstelle aufsuchen müsse. "Sie wollten davon aber nichts wissen", schilderte Theissen die Situation vor Gericht, "sie wollten ihre Geschichte nicht immer wieder jemand anderem erzählen müssen."
Zu jedem Einzelfall habe er sich ausführlich über die Problemlage seiner Patientinnen unterrichtet, in etwa zehn Prozent aller Fälle den Eingriff auch abgelehnt. Auf den Gedanken jedenfalls, dass die von ihm gestellte Indikation einer möglichen Nachprüfung nicht standhalten könnte, sei er in keinem Fall gekommen. Eine Abtreibung ist - außer in den Fällen einer medizinischen, ethischen oder eugenischen Indikation - dann nicht strafbar, wenn "der Abbruch der Schwangerschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die so schwer wiegt, dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann und nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann" (Paragraph 218a).
An der Interpretation dieser Norm scheiden sich die Ansichten von Juristen in Bayern und anderswo. Was die Memminger Richter aus dem Gesetzestext herauslesen werden, wird nicht nur die Zukunft des angeklagten Gynäkologen und seiner Patientenschaft bestimmen. Es kann - ein rechtskräftiges Urteil vorausgesetzt – das gesellschaftliche Klima der Republik beeinflussen.
Die Anklageschrift führt den Fall einer 21jährigen auf, die nicht gewusst habe, "was eine Indikation überhaupt gewesen sei". Schlussfolgerung des Staatsanwalts: keine Indikationslage. Eine andere, verheiratete Frau habe innerhalb von 15 Monaten drei Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen. Staatsanwalt Krause: "Daraus ist zu schließen, dass in diesem Fall die Schwangerschaftsabbrüche offenbar als Familienplanungsmethode betrachtet wurden." Das moralische Unwerturteil des Allgäuer Anklägers soll offenbar die Aufhellung der psychischen Gegebenheiten des Einzelfalls entbehrlich machen. Juristen-Kurzschluss: Derlei Abbrüche sind illegal.
Die Memminger Richter mussten sich entscheiden, ob sie der Leitlinie ihres Bayerischen Obersten Landesgerichts zur Notlagen-Indikation aus dem Jahre 1978 folgen oder selbst im Allgäu zur Kenntnis nehmen wollen, was der Bundesgerichtshof in Karlsruhe 1985 in einer ausgewogenen und differenzierenden Entscheidung zur Sache judiziert hat.
Bayerns oberste Richter hatten vor zehn Jahren die "Voraussetzungen einer Notlagenindikation" bemerkenswert schlicht umrissen: "Eine Heranziehung der Eltern und des Arbeitgebers der Schwangeren sowie von öffentlichen oder privaten Sozialeinrichtungen zur Überprüfung der Frage, welche Nachteile der Schwangeren bei einer Austragung der Schwangerschaft drohen würden und wie man diese abwenden oder wenigstens auf ein zumutbares Maß herabsetzen könnte ... ist in der Regel unumgänglich." Die Münchner Oberrichter legten schon damals besonderes Gewicht auf die Fragestellung, "weshalb schließlich der Schwangeren nicht zumutbar sein sollte, das Kind wenigstens zeitweise Dritten anzuvertrauen".
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass auch die Memminger Justiz der schwarzen Linie ihrer Münchner Oberinstanz folgt. Damit allerdings könnten die Theissen-Richter in Karlsruhe gründlich auflaufen. Über eine Revision gegen ihr Urteil werden nicht bayrische Richter entscheiden, sondern der Bundesgerichtshof (BGH), vielleicht gar das Verfassungsgericht.
Im Juli 1985 hatte der BGH in seiner Grundsatzentscheidung festgelegt, dass es bei der Frage der Indikation letztlich immer auf die "ärztliche Erkenntnis" ankommen müsse, die nicht von Juristen ersetzt werden dürfe. Zwar betraf das BGH-Urteil einen Zivilrechtsfall und wurde vom 6. Zivilsenat entschieden. Seine Kriterien aber haben auch für die Strafrechtsproblematik Geltung.
Es komme "auf den Entscheidungskonflikt der schwangeren Frau im Zeitpunkt des Eingriffs an", so die Karlsruher Richter, und dabei sei auch die "psychische und physische Verfassung" maßgeblich: "Die Feststellung darüber, dass die Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch vorliegen, ist das Ergebnis dieses vertraulichen Arztgespräches, bei dem es nicht nur um die wirtschaftliche und soziale Lage der Schwangeren, sondern auch um die Aufklärung der Schwangeren über die medizinischen Aspekte des Eingriffs und um die Erfassung