Altneuland. Theodor Herzl

Altneuland - Theodor Herzl


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      »Gib jetzt Ruh!« antwortete der Börsenmann. »Doktor Weiß erzählt uns, wie es bei ihnen in Mähren aussieht. Auf Ehre nicht schön.«

      Samuel Weinberger, der Vater des Herrn Leopold Weinberger, mischte sich ein: »Herr Doktor, Sie als Rabbiner sehen etwas zu schwarz.« »Weiß sieht immer schwarz!« sagte einer der Spaßmacher, aber der Witz fiel ins Leere. Samuel Weinberger fuhr fort: »Ich fühl’ mich in meiner Fabrik ganz sicher. Wenn man bei mir Spektakel macht, ruf ich die Polizei oder geh’ zum Platzkommando. Wenn das Gesindel nur die Bajonette sieht, hat es schon Respekt.«

      »Das ist aber doch ein trauriger Zustand,« meinte Rabbiner Weiß mit Sanftmut.

      Der Advokat Doktor Walter, der ursprünglich Voglstock geheißen hatte, bemerkte: »Ich weiß nicht mehr, wer gesagt hat: Mit Bajonetten kann man alles machen; nur sich darauf setzen kann man nicht.«

      »Ich seh’ schon,« rief Laschner, »wir werden alle wieder den gelben Fleck tragen müssen.« »Oder auswandern,« sagte der Rabbiner. »Ich bitte Sie, wohin?« fragte Walter. »Ist es vielleicht anderswo besser? Sogar im freien Frankreich haben die Antisemiten die Oberhand.«

      Doktor Weiß aber, der arme Rabbiner einer mährischen Kleinstadt, der entschieden nicht wusste, in welchen Kreis er da geraten war, wagte eine schüchterne Einwendung: »Es gibt seit einigen Jahren eine Bewegung, man nennt sie die zionistische. Die will die Judenfrage durch eine großartige Kolonisation lösen. Es sollen alle, die es nicht mehr aushalten können, in unsere alte Heimat, nach Palästina gehen.«

      Er hatte ganz ruhig gesprochen und nicht wahrgenommen, wie die Gesichter um ihn her sich allmählich zum Lächeln verzogen, und er war daher ordentlich verdutzt, als das Gelächter beim Worte Palästina plötzlich losbrach. Es war ein Lachen in allen Tonarten. Die Damen kicherten, die Herren brüllten und wieherten. Nur Friedrich Löwenberg fand diesen Heiterkeitsausbruch brutal und ungeziemend gegen den alten Mann. Blau benützte die erste Pause im allgemeinen Gelächter, um zu erklären: »Wenn es in der neuen Operette einen einzigen solchen Witz gegeben hätte, wär’ uns wohl gewesen.«

      Grün schrie; »Ich werde Botschafter in Wien.«

      Erneutes Gelächter. Einige riefen dazwischen: »Ich auch, ich auch.«

      Da sagte Blau ernst: »Meine Herren, alle können es nicht werden. Ich glaube, die österreichische Regierung wird so viele jüdische Botschafter nicht annehmen. Sie müssen sich um andere Posten umsehen.«

      Der alte Rabbiner war aber sehr verlegen und sah nicht mehr von seinem Teller auf, indessen die Humoristen Grün und Blau sich mit einer wahren Lust auf den spaßigen Stoff warfen. Sie teilten das neue Reich ein, schilderten die Zustände. Am Schabbes wird die Börse geschlossen sein. Der König wird den Männern, die sich um das Vaterland oder um die Börse herum Verdienste erworben haben, den Davidsorden oder den Orden vom »fleischigen Schwert!« verleihen. Wer aber soll König sein?

      »Jedenfalls Baron Goldstein,« sagte der Witzbold Blau.

      Herr Schlesinger, der Prokurist dieses berühmten Bankiers, bemerkte unwillig: »Ich bitte, die Person des Herrn Baron von Goldstein nicht in die Debatte zu ziehen, wenigstens nicht in meiner Gegenwart.«

      Fast alle Anwesenden gaben ihm durch Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Der witzige Herr Blau beging wirklich manchmal Taktlosigkeiten. Die Person des Herrn Baron Goldstern in die Debatte zu ziehen, das ging denn doch ein bisschen zu weit. Herr Blau aber fuhr fort: »Justizminister wird Herr Doktor Walter. Er bekommt den Adelsstand mit dem Prädikate »von Voglstock«. Walter Edler von Veigistock.«

      Man lachte. Der Advokat errötete über seinen Vatersnamen und rief dem Witzling zu: »Sie haben schon lang keine fremde Hand in Ihrem Gesicht gespürt.«

      Grün, der Wortwitzige, aber Vorsichtigere, flüsterte seiner Nachbarin eine Silbenkombination zu, in der das Wort Ohrfeiglstock vorkam.

      Frau Laschner erkundigte sich: »Wird es Theater auch geben in Palästina? Sonst geh’ ich nicht hin.« »Gewiß, gnädige Frau,« sagte Grün. »Bei den Festvorstellungen im Hoftheater von Jerusalem wird die ganze Israelite versammelt sein.«

      Der Rabbiner Weiß meinte nun schüchtern: »Über wen machen Sie sich lustig, meine Herren? Über sich selbst?« »Nein, ernst werden wir uns nehmen!« sagte Blau. »Ich bin stolz, daß ich ein Jud’ bin,« erklärte Laschner, »denn wenn ich nicht wär’ stolz, wär’ ich doch auch ein Jud’. Also bin ich lieber gleich stolz.«

      In diesem Augenblick gingen die beiden Stubenmädchen hinaus, eine andere Schüssel zu holen. Die Hausfrau bemerkte: »Wenn die Dienstboten dabei sind, sollte man lieber nicht über jüdische Sachen reden.«

      Blau erwiderte sofort: »Entschuldigen, gnädige Frau, ich hab’ nicht gewußt, daß Ihre Dienstboten nicht wissen, daß Sie Juden sind.«

      Einige lachten.

      »Nun ja,« sagte Schlesinger mit Autorität; »aber man muß es doch nicht an die große Glocke hängen.«

      Champagner wurde hereingebracht. Schiffmann stieß seinen Nachbar Löwenberg mit dem Ellbogen: »Jetzt wird’s losgehen!«

      »Was wird losgehen?« fragte Friedrich.

      »Haben Sie’s denn noch immer nicht heraus?«

      Nein, Friedrich hatte es noch immer nicht erraten. Aber im nächsten Augenblick wurde ihm die Gewißheit. Herr Löffler klopfte mit dem Messer an sein Glas und erhob sich. Stille trat ein. Die Damen lehnten sich zurück. Der Humorist Blau schob noch schnell einen Bissen in den Mund, er kaute, während Papa Löffler sprach: »Meine hochverehrten Freunde! Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen eine freudige Mitteilung zu machen. Meine Tochter Ernestine hat sich mit Herrn Leopold Weinberger aus Brünn, Mitchef der Firma Samuel Weinberger und Söhne, verlobt. Das Brautpaar soll leben. Hoch!«

      Hoch! Hoch! Hoch! Alle hatten sich erhoben. Die Gläser klangen. Dann ging man um den Tisch herum, zu den Eltern, zum Brautpaare, Glück wünschend. Auch Friedrich Löwenberg machte diesen Weg mit, obwohl er eine Wolke vor den Augen hatte. Eine Sekunde lang war er vor Ernestine gestanden und hatte mit zitternder Hand sein Glas dem ihrigen genähert. Sie sah flüchtig über ihn hinweg.

      Dann war die Stimmung an der Tafel fröhlich geworden. Ein Trinkspruch folgte dem anderen. Schlesinger hielt eine würdevolle Rede. Grün und Blau zeigten sich auf der Höhe ihrer humoristischen Aufgabe, Grün verrenkte in seinem Toast noch mehr Silben als gewöhnlich, und Blau machte allerlei taktlose Anspielungen. Die Gesellschaft geriet in die beste Laune.

      Friedrich hörte das alles nur undeutlich, wie aus der Ferne, und es war ihm zumute, als befände er sich in einem dichten Nebel, in dem man nichts sieht und schwer Atem holen kann.

      Das Mahl ging zu Ende. Friedrich hatte den einzigen Gedanken, fortzukommen, weit weg von all diesen Leuten. Er kam sich überflüssig vor in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in der Welt überhaupt. Aber als er sich in dem kleinen Gedränge nach der Tafel unauffällig hinausdrücken wollte, kam ihm Ernestine in den Weg. Lieblich war ihre Stimme, als sie ihn anhielt: »Sie haben mir noch nichts gesagt, Herr Doktor!« »Was soll ich Ihnen sagen, Fräulein Ernestine? … Ich wünsch’ Ihnen Glück. Ja, ja — ich wünsche Ihnen viel Glück zu dieser Verlobung.«

      Aber da war schon der Bräutigam wieder neben ihr, legte den Arm mit der Sicherheit des Besitzers um ihre Taille und zog sie fort. Sie lächelte.

      Als Friedrich Löwenberg in die Winternachtluft hinaustrat, legte er sich die Frage vor, was das Widerlichere gewesen sei: die Besitzergebärde des Herrn Weinberger aus Brünn, oder das Lächeln des jungen Mädchens, das er bisher so bezaubernd gefunden hatte. Wie? Seit vierzehn Tagen erst kannte der »Mitchef« die Holde, und er durfte seine schwitzende Hand auf ihren Leib legen. Welch ein ekelhafter Handel. Es war der Zusammenbruch einer feinen Illusion. Der Mitchef hatte offenbar Geld, und Friedrich hatte keines. In diesem Kreise, wo man nur für Vergnügen und Vorteil Sinn hatte, war Geld alles,


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