Katakomben. Mark Prayon
sofort loszufahren, in einer Stunde würden sie dort sein. Sie debattierten noch kurz darüber, ob Nicole die Fahrt ans Meer mitmachen sollte.
Van den Berg wollte vermeiden, sie einem hohen Risiko auszusetzen, die Psychologin versprach, bei Gefahr im Verzug aus der Schusslinie zu bleiben. Der Kommissar wusste, dass die Psychologin ihm von großem Nutzen sein konnte, wenn sie Grangé schnappten. Sie nahmen den großen Peugeot, van den Bergs Dienstwagen. Deflandre übernahm das Steuer, Nicole und van den Berg setzten sich nach hinten, um ihre Vorgehensweise zu beraten.
Nicoles Blick fiel auf eine halbe Rolle Kekse, die hinten auf der Ablage hin und her rollte. „Futterst du nicht immer diese Sorte?“ Van den Berg fühlte sich ertappt. „Die habe ich hier wohl liegen gelassen.“ Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Kommissar die letzten fünf Kringel verputzt hatte. Nicole und Deflandre beobachteten ihn interessiert dabei und amüsierten sich über seinen Heißhunger auf Süßkram.
Der junge Polizist war für seinen wilden Fahrstil berüchtigt - Deflandre hatte sich schon Anzeigen von Autofahrern eingehandelt, die sich von seinen waghalsigen Überholmanövern provoziert fühlten und sich bei seinem Vorgesetzten beschwerten. Van den Berg rüffelte seinen Kollegen regelmäßig, wenn er mit mehr als 200 Sachen über die Autobahn jagte. Jetzt aber ließ der Kommissar ihn gewähren. Er wollte diesen Grangé aufspüren, und das möglichst schnell. Es war die einzige Erfolg versprechende Fährte, die sie hatten, er durfte ihnen nicht durch die Lappen gehen – auf gar keinen Fall. Als sie in De Panne ankamen, waren nur wenige Menschen auf den Straßen unterwegs, der anhaltende Nieselregen hatte den Urlaubern die Lust auf ausgedehnte Spaziergänge vermiest. Es war nicht schwer, die Pension „Aan Zee“ zu finden.
Die schlichte Herberge unterschied sich kaum von den anderen grauen Häusern in der Umgebung. Van den Berg und Nicole betraten das Hotel durch die offene Tür. Deflandre blieb draußen und beobachtete das Gebäude von der Seite aus, sodass er gleichzeitig auch den Hintereingang im Auge hatte. Das bescheidene Foyer an der Rezeption machte zwar einen einfachen aber gepflegten Eindruck. Am Empfang saß ein Mann, der mindestens siebzig sein musste.
Konzentriert blickte der Alte über den Goldrand seiner Brille und studierte die Ankömmlinge. „Bonjour, wir sind von der Polizei Brüssel, Mordkommission.“ Der Mann schaute erstaunt, blieb aber gelassen. „Wir suchen einen Yves Grangé.“ „Der Name sagt mir nichts. Der wohnt bestimmt nicht hier.“ „Vielleicht nicht unter diesem Namen!“ Van den Berg fischte ein Foto aus der Tasche. Der Mann nickte. „Das könnte er sein“, murmelte er. „Er sieht etwas älter aus, aber …“
Er schlug das Gästebuch auf. „Peters, René Peters, ich denke, das ist er.“ „Ist er auf seinem Zimmer? Wann haben sie ihn zum letzten Mal gesehen?“ „Vor einer Stunde. Er ist nicht hier. Er geht mittags immer weg und kommt gegen Abend wieder.“ „Seit wann wohnt er hier?“, wollte van den Berg wissen. „Seit einer Woche.“
„Unser Freund ist gerne inkognito“, sagte der Kommissar lächelnd. Was führte Grangé im Schilde? Warum versteckte er sich in einer Pension in De Panne? War er der Mann, der zwei Menschen vergiftet und vor eine Kirche geworfen hatte? Sie fragten sich, ob er Verdacht geschöpft und nicht mehr in die Pension zurückkehren würde.
Sie machten einen weiteren Versuch, Grangé zu orten. Aber es gelang ihnen nicht – hatte er etwas gerochen und sein Handy entsorgt? Sie warteten im Wagen, Nicole verließ die beiden Kollegen ab und zu, um Getränke und Snacks zu besorgen.
Es begann zu dämmern und die drei Polizisten dachten darüber nach, ob Grangé überhaupt auftauchen würde oder ob sie nur ihre Zeit verschwendeten. Deflandre vertrat die Ansicht, dass das Phantom bereits über alle Berge war - van den Berg wusste nicht so recht, was er glauben sollte. Nicole war allerdings davon überzeugt, dass Grangé schon bald aufkreuzen würde.
Als van den Berg gerade im Begriff war, eine Schlafpause einzulegen, näherte sich ein kräftiger Mann in unauffälliger grauer Jacke. Mit schnellen Schritten eilte er auf den Hoteleingang zu. Der Wind hatte seine Haare völlig zerzaust. „Das ist er!“ Deflandre zog seine Waffe, lud sie durch und riss die Autotüre auf. „Warte, es ist zu spät, er ist schon fast im Hotel“, rief van den Berg. „Wir holen ihn uns besser im Zimmer.“
Die beiden Männer stiegen langsam aus dem Auto, während Nicole zurückblieb und das Hotel von jener Position aus beobachtete, die Deflandre zuvor eingenommen hatte. Die Polizisten sprachen kurz mit dem Concierge, der ihnen bestätigte, dass der Mann, der soeben im Hotel aufgetaucht war, mit demjenigen übereinstimmte, der als René Peters eingecheckt hatte.
Der Kommissar und sein junger Assistent schlichen die schmale Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Zimmer 23, hier musste er sein. Deflandre klopfte an die Tür ohne etwas zu sagen, van den Berg stand hinter ihm mit dem Revolver im Anschlag. Nichts rührte sich. Sie warteten eine halbe Minute, dann klopften sie erneut. Noch immer kam keine Reaktion aus dem Zimmer. Deflandre legte sein Ohr an die dünne Tür. Er hörte einen Windzug, das Fenster schien offen zu stehen, sonst vernahm er nichts.
„Grangé oder von mir aus Peters, wir wissen, dass sie hier sind. Öffnen sie die Tür, wir haben ein paar Fragen. Wir sind von der Polizei!“ Es vergingen weitere zwei Minuten, ohne dass sich etwas rührte. „Wir öffnen“, flüsterte van den Berg.
Deflandre steckte den Schlüssel in den Zylinder und schloss leise auf. Mit einem heftigen Ruck drückten die Polizisten die Tür auf und sprangen ins Zimmer. „Polizei - kommen sie raus!“ Das Bett war zerwühlt, Deflandre lief ins Badezimmer. „Scheiße, da ist auch niemand!“ Van den Berg rannte nach unten zur Rezeption. „Wie kommt man von der zweiten Etage zum Hinterausgang?“ „Über die Feuertreppe und das Dach!“ „Scheiße!“
Van den Berg ärgerte sich über seinen dämlichen Fehler, nicht gleich alle Fluchtmöglichkeiten in Betracht gezogen zu haben. In diesem Moment kam Nicole ins Hotel gestürmt. „Beeilt euch, er ist in Richtung Strand geflüchtet.“
Deflandre hielt sich für den schnellsten Polizisten Brüssels, mindestens das. Als Jugendlicher war er ein herausragender Leichtathlet gewesen und hatte es auf der Sprintstrecke zum belgischen Jugendmeister gebracht.
Er rannte in die Richtung, die Nicole ihm gewiesen hatte. Van den Berg hatte keine Mühe, ihm zu folgen, obwohl er zehn Jahre älter war als er. Der Kommissar genoss es, dass er noch so schnell auf den Beinen war. Deflandre hatte die Spur aufgenommen. Er sah einen großen Mann in dunkler Jacke, der den Strand entlang rannte. Das musste er sein.
Deflandre glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als van den Berg unvermittelt neben ihm auftauchte. Er hätte zu gern etwas gesagt, aber für Sprüche war jetzt keine Zeit. Sie zogen das Tempo noch einmal an, sie kamen dem Flüchtenden immer näher, keine 100 Meter lagen jetzt mehr zwischen ihnen. Der Strand war fast menschenleer, nur ein paar Familien gingen mit ihren Kindern am Meer spazieren. Es hatte aufgehört zu regnen. „Bleiben sie stehen, Grangé! Polizei!“, brüllte van den Berg so laut er konnte. Der Flüchtende rannte weiter, er drehte sich nicht einmal zu ihnen um.
Nur langsam gelang es ihnen, Grangés Vorsprung aufzuholen. Die Polizisten mussten anerkennen, dass ihr Gegner offensichtlich in guter Form war. Plötzlich blickte er einen kurzen Moment zu ihnen und wechselte mit einem flinken Haken die Richtung, jetzt rannte er vom Wasser weg in Richtung der dicht bebauten Promenade. „Wir müssen ihn kriegen, bevor er vom Strand runter ist“, rief van den Berg zu Deflandre. Der Polizist zog seine Pistole und feuerte eine Kugel in die Luft ab. „Das ist die letzte Warnung, Grangé!“ Der Gejagte drehte sich zu den Polizisten, im gleichen Moment stolperte er und ging zu Boden. Er raffte sich noch einmal auf, aber im tiefen Sand dauerte es zu lange, bis er Geschwindigkeit aufnehmen konnte, die Polizisten kamen immer näher.
Grangé schien unbewaffnet zu sein, sie verzichteten darauf, auf ihn zu schießen. Deflandre warf sich auf den Mann und packte seinen rechten Fuß. Das Phantom strauchelte und fiel bäuchlings in den Sand. Deflandre versetzte ihm einen Faustschlag aufs Kinn, während er auf ihm kniete. Van den Berg drehte Grangé auf dem Rücken, er keuchte und rang nach Luft. Er reckte die Hände nach oben als Zeichen, dass er keinen Widerstand mehr leisten würde. „Legen sie sich auf den Bauch – die Hände auf den Rücken!“, befahl Deflandre. Grangé gehorchte und drehte