Der da Vinci Killer. Wolf Heichele
sondern ihm auch einen besseren Griff am Seil ermöglichen.
Der dreißig Jahre alte Ordensbruder strich sich ein letztes Mal über seinen langen schwarzen Vollbart, um sich Mut zu machen und schlang das Seil anschließend doppelt um die Balustrade herum, sodass es zwar festhielt, sich später aber von unten wieder lösen ließ!
Vorsichtig begann er sich abzuseilen, langsam und rhythmisch, in der Art eines alpinen Bergsteigers. Er musste leise vorgehen, denn er durfte auf keinen Fall von Pater Emilio gehört werden. Dieser könnte sonst aufgeschreckt werden und fliehen, wodurch die zeitraubende Vorbereitung der letzten Wochen umsonst gewesen wäre. Dank des lauten Regens aber hörte Pater Emilio absolut nichts.
Jabal fühlte festen Boden unter seinen Zehen. Er war auf dem Ziegeldach des Säulenhofs angekommen. Vorsichtig löste er das Seil von der Balustrade, fing es mit beiden Händen auf, als es ihm entgegenfiel und rollte es zusammen. Es war wichtig, keine Beweise am Tatort zu hinterlassen. Dann legte er sich flach auf den Bauch und robbte über das nasse Dach bis zur Abrisskante. Dort angekommen, sah er sich um. Der Innenhof der Säulenhalle war schwach beleuchtet, wie immer, wenn es Nacht war. Sieben Laternen spendeten ein trübes, bernsteinfarbenes Licht, und im Regen verschwammen sie zu schwachen aquarellartigen Farbtupfern und entfalteten noch weniger Leuchtkraft als sonst.
Wie romantisch!, dachte Jabal und vergaß für einen Moment, weswegen er hier war. Doch er fand seinen Fokus schnell wieder!
Padre Emilio war in sein Gebet vertieft und kniete andächtig am Boden. Regenwasser lief ihm in den Nacken und sein Gebet klang gedämpft. Seine Stimme modulierte im Regen, verzerrte gespenstisch fremd.
Jabal hielt den Atem an. Als er damals zu seinem Orden gestoßen war, hätte er sich niemals träumen lassen, eines Tages einen Mord für die Bruderschaft begehen zu müssen. Dieser Gedanke lag einem gläubigen Mönch völlig fern. So fern wie Gedanken an Hexenverfolgungen, wie sie im dreizehnten Jahrhundert im Namen der Kirche stattfanden.
Nun aber – hier und heute –, im dritten Jahrtausend, sah sich Jabal gegen seinen Willen mit der Aufgabe konfrontiert, einen Menschen für seinen Orden töten zu müssen. Und zwar im Auftrag des Oberrates des Ordens. Dieser nannte sich Zorus und bekleidete das höchste Amt in der Bruderschaft. Jabal mochte ihn nicht, denn Zorus pflegte weltliche Kontakte. Er ließ sich im Kloster oft wochenlang nicht blicken und wenn er da war, war er meist nur wenige Stunden anwesend.
Die Ordensbrüder aber hatten ihn trotzdem zu ihrem Oberrat gewählt, was ihn vor fünf Jahren zum mächtigsten Mann des Ordens der Roten Gemini gemacht hatte. Und Zorus nutzte seine Macht seitdem! Die meisten Brüder fürchteten ihn wie den allmächtigen Gott selbst, obwohl sie ahnten, dass er in dubiose Machenschaften verwickelt war, die wohl nicht besonders christlich waren. Aber sie schwiegen, redeten nicht einmal darüber, da Zorus die Bruderschaft finanziell in der Hand hatte. Ohne seine beträchtlichen Zuwendungen würde der Orden der Roten Gemini und somit auch das monumentale Kloster, in dem er residierte, keinen Tag länger überleben.
Die kargen Einnahmen der Ordensbrüder könnten die Kosten für den gewaltigen gotischen Klosterbau, den man vor fünfzig Jahren für die damals neu gegründete Bruderschaft angemietet hatte, nicht tragen. Zu schlecht waren die Zeiten für Mönche in heutigen Zeiten längst geworden. Und so war es für den finanzstarken Zorus ein Leichtes gewesen, die Macht im Orden an sich zu reißen.
Jabal verwarf die quälenden Gedanken an Zorus wieder. Ihm blieb ohnehin keine Wahl. Er musste den Befehl ausführen, wenn er nicht vom Orden ausgeschlossen werden wollte.
»Herr, verzeih mir«, flüsterte er und glitt lautlos vom Ziegeldach. In geduckter Haltung pirschte er sich an Pater Emilio heran. Säule für Säule! Die Angst hämmerte wie Glockenschläge in seinem Körper. Laut – nachhallend.
Ehe Pater Emilio bemerkte, dass er nicht mehr allein war, hatte Jabal eine schallgedämpfte Automatikpistole gezogen, sie auf seinen Hinterkopf gerichtet und abgedrückt.
Bar La Ronda
Venedig, in derselben Nacht
»Das Tanzen hast du jedenfalls nicht verlernt, Liebling. Leider kommen wir viel zu selten dazu.« Micaela gab ihrem Mann einen zärtlichen Kuss auf die Wange, während sie eng umschlungen über die Tanzfläche der Bar La Ronda schwebten. Das Lokal galt als Geheimtipp unter den Einheimischen. Man traf hier selten auf Touristen und die Bar lag gut versteckt im Norden von Venedig. Sie bot eine gemütliche Lounge-Atmosphäre im lateinamerikanischen Stil und es gab hervorragenden Wein, Tapas-Gerichte in allen Variationen, und abends konnte man sogar auf einer romantisch beleuchteten Terrasse das Tanzbein schwingen und den Abend stimmungsvoll ausklingen lassen.
Kubanische Salsa-Rhythmen, italienische Klassiker, aber auch moderner Chillout-Jazz im Stile von »Cafe Americaine« bildeten die passende musikalische Untermalung hierfür. Im Moment lief ein Titel von Rondo Veneziano, jenem Genie, das es in perfekter Art und Weise verstand, klassische Musik mit zeitgenössischem Pop zu vereinen. Micaela genoss jede Sekunde und wünschte sich, dass der Song nie zu Ende gehen würde. Viel zu selten erlebte sie mit ihrem Mann solch schöne Momente.
Irgendwann aber klang der Song aus und Micaela legte ihre hübsche Stirn sorgenvoll in Falten. Etwas schien sie zu beunruhigen.
»Mauro?«
»Ja, Liebling, was ist denn?«
Commissario Montebello war ganz in die Harmonien Rondo Venezianos versunken.
»Denkst du, Jarno geht es gut?«
Montebello nickte und wog seine Frau weiter im Rhythmus, obwohl der nächste Song noch nicht begonnen hatte.
»Mach dir keine Sorgen, mein Engel. Er hat sich so lange darauf gefreut, endlich einmal wieder bei seinen Großeltern übernachten zu dürfen, dass er jetzt bestimmt voll in seinem Element ist. Er spielt sicher gerade Domino mit Oma.«
»Oder aber Fortnite auf dem Handy, und Oma liegt neben ihm auf der Couch und ist eingeschlafen«, mahnte Micaela. »Es gefällt mir gar nicht, dass er mit diesem Spiel angefangen hat.«
»Ja, es geht mir auch gegen den Strich. Aber alle seine Freunde spielen es. Und wenn wir es ihm komplett verbieten würden, würden wir ihn schnell zum Außenseiter machen. Das wäre nicht gut. Zudem scheint er gut damit umgehen zu können, findest du nicht?«
»Ja, das stimmt schon. Er hält sich penibel an die fünf erlaubten Stunden pro Woche. Damit kann ich leben. Und seinen schulischen Leistungen hat es bisher keinen Abbruch getan. Aber denkst du nicht, dass es langfristig einen schlechten Einfluss auf seine Entwicklung haben könnte? Es ist immerhin ein sehr kriegerisches Spiel. Man hantiert mit Waffen aller Art herum.«
»Ich weiß, Micaela. Deshalb müssen wir weiter sehr gut auf ihn achtgeben. Und das werden wir. Ich denke, wir haben bisher einen guten Mittelweg gefunden. Wir haben ihn mit dieser neuen Art der elektronischen Medien vertraut gemacht, ohne ihn denselben auszuliefern, aber auch, ohne ihn von seinen Freunden zu isolieren. Und wenn ich bedenke, wie brutal manche Italo-Western waren, die ich in meiner Jugend zu sehen bekam, finde ich, dass ein Spiel, bei dem immerhin kein Blut fließt, nicht wesentlich schädlicher für die Entwicklung der Kinder sein dürfte.«
Micaela strich ihrem Mann über die Stirn:
» Dennoch macht es mich traurig, dass wir in Zeiten leben, in denen die Kinder mit solchen grundlegenden Veränderungen zurechtkommen müssen: Facebook, Multiplayerspiele, Youtube. All das gab es doch früher auch nicht und wir waren trotzdem glücklich.«
»Ja, das waren wir, Schatz. Aber wir sollten die Zeit nicht zurückdrehen wollen. Wir sollten versuchen, mit ihr zu wachsen.«
»Oder mit ihr Schritt zu halten?”, mahnte Micaela kritisch.
»Ja, wer weiß. Ich denke, dass es einfach wichtig ist, dass die Sozialisation von Kindern gelingt, und dabei ist es vermutlich egal, ob diese im Dschungel Brasiliens, im mittelalterlichen Venedig oder zum Teil in den Sozialen Medien stattfindet. Aber hör doch, der nächste Song beginnt.«