DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner

DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner


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Stadtführungen. Sie hatte zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Münchner Kriminalpolizei daran teilgenommen, um ihren zukünftigen Einsatzort noch besser kennenzulernen.

      Allerdings wusste sie auch, dass es sich dabei vermutlich um eine verfälschte Herkunftssage des Schäfflertanzes handelte. Denn obwohl München zur damaligen Zeit nachweislich mehrere Male von der Pest heimgesucht worden war, wurde dennoch bezweifelt, dass es 1517 ebenfalls eine Pestepidemie in der Stadt gegeben hatte. In den Sterberegistern für dieses Jahr waren jedenfalls keine auffälligen Sterberaten verzeichnet. Außerdem wurde der Schäfflertanz erstmals im 17. Jahrhundert als Zunftbrauch nachgewiesen. Von all dem sagte sie jedoch nichts, da es für die Ermittlungen keine Rolle spielte.

      Englmair nickte anerkennend. Sogar Krieger schien von ihrem Wissen beeindruckt zu sein. Er starrte sie mit offenem Mund an und war ausnahmsweise sprachlos, wofür Anja dankbar war.

      »Also ist der Fundort neben den Beulen ein weiterer Bezug auf die Pest«, sprach sie das Offensichtliche aus. Seitdem sie bestätigt hatte, dass es sich bei dem Leichnam aller Voraussicht nach um die vermisste Nadine Weinhart handelte, vermied sie es, die tote Frau noch einmal anzusehen. Außerdem hatte sie den Abstand zwischen ihnen automatisch wieder vergrößert, indem sie zwei Schritte zurückgewichen war.

      »Das Thema scheint für den Mörder demnach eine wichtige Rolle zu spielen«, sagte Englmair. »Warum auch immer?«

      Obwohl sie noch immer nicht wussten, wie Nadine Weinhart gestorben war, gingen sie alle insgeheim davon aus, dass es sich um Mord handelte. Andernfalls hätte der Täter ihre Leiche gewiss nicht mit den scheußlichen »Pestbeulen« verunstaltet und ihre Leiche an einem Ort wie dem Wurmeck abgelegt, als wollte er sie öffentlich zur Schau stellen.

      Anja fielen spontan zwei weitere Stellen ein, die mit der Pest in Verbindung standen.

      So gibt es an der Rathausfassade in Traufhöhe den Wasserspeier einer Megäre, eine Rachegöttin der griechischen Mythologie. Unter ihrem Mantel kriecht ein Geschöpf hervor, das die Pest symbolisieren soll. Neben ihr ein Arzt, ein Schäffler und ein Musikant als Bekämpfer der Seuche.

      Außerdem befinden sich auf dem Sockel der Mariensäule vor dem Rathaus vier bronzene Putti. Das sind geflügelte Kinderengel. Sie kämpfen gegen vier in Tiergestalt dargestellte Menschheitsplagen. Dabei symbolisiert der Löwe den Krieg, der Drache den Hunger, die Schlange den Unglauben und der Basilisk, ein mythisches Tier, wiederum die Pest.

      »Die Leiche wurde also nicht zufällig, sondern mit voller Absicht am Wurmeck abgelegt«, sagte Anja. »Der Täter will mit dem Fundort und diesen …« Sie deutete mit der Hand vage in Richtung Leiche, ohne sie anzusehen. »… Beulen vermutlich etwas mitteilen. Fragt sich nur, was?«

      Sie bemerkte die Blicke, mit denen die beiden Kollegen sie ansahen und fragte: »Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

      Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur …« Er verstummte und seufzte. »Die Leiche wurde nicht einfach nur abgelegt.«

      »Sondern?«

      »Komm her! Ich zeig’s dir.« Englmair nahm eine Klarsichthülle, die Anja erst jetzt bemerkte, von einer Ablage aus leicht zu reinigendem Edelstahl. Sie schien mehrere großformatige Fotos zu enthalten.

      Sie ging mit großem Abstand um den Seziertisch herum und trat neben ihn. »Vielleicht könntest du inzwischen die Leiche zudecken«, sagte sie zu Krieger, ohne ihn dabei anzusehen. »Muss ja nicht sein, dass sie die ganze Zeit so entblößt daliegt.«

      Krieger zuckte mit den Schultern. Er tat jedoch, was sie gesagt hatte, ohne zu murren oder es mit einem anzüglichen Spruch zu kommentieren.

      »Das sind die Tatortfotos, die wir vom kriminaltechnischen Fotografen bekommen haben.« Englmair reichte ihr den Stapel, den er aus der Klarsichthülle geholt hatte.

      Anja nahm ihn entgegen und betrachtete die oberste Aufnahme. Sie sog Luft ein und hielt sie unwillkürlich an.

      Die Leiche war tatsächlich nicht einfach nur abgelegt, sondern geradezu in Szene gesetzt worden. Sie war auch auf den Bildern nackt. Die dunklen Beulen auf dem bleichen ausgemergelten Körper waren im Blitzlicht des Fotografen deutlich zu erkennen. Allerdings lag sie nicht am Boden, wie Anja vermutet hatte, sondern saß auf einem weißen Holzpferd mit silberner Mähne und braunem Zaumzeug. Ihr Oberkörper war gegen den Hals des Tieres gelehnt. In der rechten Hand hielt sie etwas, das wie ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil aussah. Und auf dem weißblonden Haar hatte sie einen Kranz aus Zweigen und grünen Blättern.

      »Was ist das für ein Pferd?«

      »Wir vermuten, dass es sich um ein altes Karussellpferd aus Holz handelt«, sagte Krieger, der das Leichentuch wieder über die Tote gebreitet hatte. Er stand mit verschränkten Armen da und lehnte sich gegen den Seziertisch. »Falls sich das bestätigen sollte, kommen wir dem Kerl vielleicht auf die Spur, indem wir herausfinden, woher es stammt.«

      »Die Leiche war mit Seilen daran festgebunden. So konnte sie nicht herunterfallen«, erläuterte Englmair.

      Anja nahm das nächste Foto in Augenschein. Es zeigte Pferd und Reiterin aus einer anderen Perspektive. Jetzt konnte sie auch die Stricke sehen, mit denen die Fußknöchel unter dem hölzernen Bauch des Pferdes und die Handgelenke vor dem Hals zusammengebunden worden waren. Danach kamen Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gefolgt von Detailfotos des Bogens in ihrer Hand und des Kranzes auf ihrem Kopf.

      »Ist das ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil?«

      Englmair nickte. »Vermutlich hat ihn der Täter eigenhändig hergestellt. Er besteht aus einer etwa ein Meter fünfzig langen und fünf bis sechs Zentimeter dicken Haselnussrute. Der Täter hat sie getrocknet, entrindet und anschließend gebogen. Das Sehnengarn besteht aus weißem Polyester. Als Pfeil dient ein getrockneter und entrindeter Haselnussschössling, durchschnittlich sieben Millimeter dick und 50 Zentimeter lang. Er wurde mit Sekundenkleber am Bogen befestigt, sodass er sich nicht davon lösen konnte. Dann wurde das Ganze mit Klebeband an der Hand der Toten fixiert.«

      »Und der Kranz auf ihrem Kopf?«

      »Lorbeer«, antwortete Krieger.

      »Ein Siegerkranz«, verlieh Anja ihrer Vermutung Ausdruck. Nach ihrer Erfahrung war ein Lorbeerkranz vor allem ein Symbol für einen Sieg oder einen besonderen Erfolg.

      Englmair zuckte mit den Schultern.

      »Wie eine Siegerin sieht sie nicht gerade aus«, widersprach Krieger.

      »Es geht auch nicht darum, wie wir sie sehen, sondern was der Täter in ihr sah«, entgegnete Anja. »Und er muss schon einen verdammt guten Grund gehabt haben, dass er sich die ganze Mühe mit dem Karussellpferd, dem Bogen und dem Kranz gemacht hat.«

      Sie sah sich das nächste Foto an. Auf ihm war nur das Holzpferd zu sehen, nachdem man den Leichnam entfernt hatte. Der Sattel, der bislang verdeckt gewesen war, war ebenfalls braun. Anja blätterte die restlichen Bilder rasch durch, bevor sie sie Englmair zurückgab.

      »Habt ihr schon eine Vermutung, warum der Täter die Leiche auf diese spezielle Art und Weise hinterlassen hat?« Der Mörder hatte sich gewiss nicht nur aus Spaß die Mühe gemacht, den Leichnam auf ein Karussellpferd zu setzen und darüber hinaus Pfeil und Bogen und einen Lorbeerkranz anzufertigen. In derartigen Fällen, die so eindeutig und auffallend von gewöhnlichen Mordfällen abwichen, geschah selten etwas ohne konkreten Grund. Jedes Detail hatte für den Täter eine manchmal offensichtliche, manchmal aber auch verborgene Bedeutung. Und erst, wenn es den ermittelnden Beamten gelang, diesen Geheimcode zu entschlüsseln, konnten sie darauf hoffen, dem Mörder einen Schritt näher und irgendwann auf die Schliche zu kommen.

      Doch die beiden Männer schüttelten synchron die Köpfe. Damit wirkten sie trotz ihres Größenunterschieds wieder wie die Zwillinge, die sie entgegen ihrer Ähnlichkeit nicht waren. Allerdings standen sie noch am Anfang ihrer Ermittlungen. Sie hatten gerade erst damit begonnen, die Hintergründe der Tat zu enträtseln, und da konnte man in der Regel auch keine Wunder erwarten.

      »Vielleicht soll sie so eine Art Jagdgöttin darstellen«, vermutete Krieger.


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