Komparsen-Blues. Mike Nebel
entwickelte sich schnell als Rohrkrepierer, da die Leute von mir nicht nur vollmundige Ankündigungen hören, sondern schwarz auf weiß irgendetwas sehen wollten, wie „Jedem, der bei dem Fragebogen mitmacht, garantiere ich, Ronny Luschke höchstpersönlich, eine 99,9%ige Gewinnchance auf eine Fernreise zu den Pygmäen!“ Doch so etwas gab es natürlich nicht. Ich faselte nur erfolglos davon, und schon nach kurzer Zeit verschwand dieser angebliche Trick aus meinem Kopf. Ich beließ es dabei, oft nur an den Haustüren mit den Packungen zu rascheln wie der Weihnachtsmann. Ich schob mich schon am Morgen meines letzten Arbeitstages auf eine Parkbank, um Ausschau nach Frau-Hund-Pärchen zu halten. Mein Paket bestand aus noch fünfzig Fragebögen und vier Packungen Trockenfutter. Bei normaler Arbeitsweise zu viel für einen Tag. Viel zu viel für einen Tag. Wer jedoch auf einer Parkbank mit einigen Packungen neusten Trockenfutter sitzt, braucht nicht lange zu warten, bis er von den ersten Hunden umzingelt wird. Die Köter nahmen ganz einfach Witterung auf und zerrten an den Leinen, bis sich, samt Anhang, eine große Traube um mich herum bildete. Einer von ihnen hob sich aus der Masse deutlich hervor. Ich tippte auf Bulldogge. Gedrungene Gestalt, kurze Beine und vor Kraft nur so strotzend. Er riss förmlich wie ein Berserker an der Leine, sodass Frauchen ins Schwanken geriet, sich der Kraft ihres Rüden schließlich ergab und von ihm zu mir gezogen wurde. Der Kerl war vollkommen seinem Fresstrieb erlegen und er stopfte seinen Kopf tief in jede meiner Plastiktüten. Ich entschied mich spontan für diesen triebhaften Rüden als ersten Testfresser für den letzten Tag. Hin und wieder passierte es auch mal, dass der Hund und nicht die Frau den entscheidenden Impuls für eine Verfolgung gab. An der Leine des Hundes war eine Frau von dürrer Gestalt mit krummem Rücken. Sie sah viel älter aus, als sie wahrscheinlich war. Diese Frau wirkte auf mich wie eine Hexengestalt. Ihr Haar bestand aus dünnen, spröden, langen und schwarzen Fäden, die nicht vollständig ihren Kopf abdeckten. Irgendwo fehlte immer was, wodurch man an einigen Stellen ihre Kopfhaut sehen konnte. Ihr Kopfhaar erinnerte mich an ein Bündel Fäden, die man auf der Kirmes beim Fadenziehen in die Hand bekommt. Und an ihrer Seite war ein Hund, der wie ein zu kurz geratener Schwergewichtsboxer daherkam und einfach nicht zu ihr passte. Hätte ich in diesem Moment genau darüber mal näher nachgedacht, …nun, ich tat es nicht. Sie zog so lange mit ihrer fehlenden Kraft an dem Tier, bis er schließlich ein Erbarmen mit ihr hatte und beide davontrotteten. Ich erklärte der verbleibenden Menge an Menschen und Hunden, dass die Schnüffelstunde nun vorbei wäre und musste zusehen, dass ich den Anschluss zu dem triebhaften Rüden mit der Hexenfrau mit den Fäden am Kopf nicht verlor.
Am Türschild stand „Schmidtke“, schlecht leserlich mit einem Kuli draufgekritzelt. Ich brachte mich in Position, stellte mich gerade auf und läutete. Die Haustür ging auf, Frau Schmidtke schaute durch einen kleinen Spalt, fixierte mich für einen Moment grimmig mit zusammengekniffenen Augen und schlug die Tür wieder zu. Ich war mir sicher, dass sie mich erkannt hatte. Nur wenn sie sich doch an mich erinnern konnte, warum schlug sie dann ohne zu zögern die Tür so schnell wieder zu? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie das tat, weil sie mich wiedererkannte. Ich stand vor einer verschlossenen Tür und machte keinerlei Anstalten wieder meines Weges zu gehen. Ich stand einfach da und schaute mich im Treppenhaus um. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht zu verschwinden, obwohl Frau Schmidtke mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Ich war zum ersten Mal in einer solchen Situation. Normalerweise öffneten die Leute und wenn sie nicht interessiert waren, wurden die üblichen Dinge wie „Ich kaufe nichts und mein Hund auch nicht.“ gesagt. So in der Art halt. Auf dem Weg nach unten, drehte ich wieder um und ging zurück an die Tür von dieser Frau Schmidtke. Mir ging so etwas wie eine FBI-Masche durch den Kopf. So nannte ich es in diesem Moment. An meinem letzten Tag wollte ich irgendwie noch einen besonderen Moment, mir war nach einer kleinen gespielten Szene. In den Hauptrollen Frau Schmidkte und ich, beide Akteure lediglich getrennt durch ihre Wohnungstür. Ich wusste zwei Dinge: Frau Schmidtke war in ihrer Wohnung und ich als Hundefuttermann war mit meinem Ausweis in offizieller Mission unterwegs. FBI- Agenten geht es nicht anders. Auch sie wissen, dass die Zielperson hinter einer Tür steckt und auch sie haben einen klaren Auftrag, den sie erfüllen müssen. Ich wollte es drauf anlegen. Es war Mut. Ich wurde wieder von Mut erfasst und dachte an den Esel, den ich vertreiben wollte, wie einen bösen Geist, läutete ein zweites Mal, wartete einen kurzen Moment und begann, anfangs etwas verhalten, gegen die verschlossene Haustür zu reden.
„Frau Schmidtke, können Sie mich hören? Hören Sie mich? Wenn Sie mich hören, dann geben Sie mir bitte kurz ein Zeichen!“
Keine Reaktion von Frau Schmidtke.
„Frau Schmidtke, wir kennen uns doch aus dem Park. Ich saß mit den Tüten auf der Parkbank und ihr Hund war doch so verrückt nach mir, wegen dem Hundefutter was ich bei mir hatte und Sie zogen ihn dann doch weg. Frau Schmidtke? Hören Sie?“
Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Zurück mehr für mich. Ich war mittendrin in dieser Nummer und stellte mir sogar vor, neben mir würde ein zweiter, imaginärer Agent stehen. Eine Vorstellung, die mir noch mehr Mut gab.
„Frau Schmidtke, ich kann Sie noch heute Morgen glücklich machen. Sie und Ihren Hund!“ Mir ging durch den Kopf, was ich gerade sagte. „Frau Schmidtke, nicht das Glücklich machen, was Sie jetzt vielleicht denken, sondern ein anderes. Das, was ich meine!“
Ich machte immer wieder auf professionelle Art Pausen, um ihr eine Chance auf Reaktion zu geben.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Frau Schmidtke. Ich will wirklich nichts von Ihnen. Ich verteile kostenlos Hundefutter hier im Viertel und habe einen kurzen Fragebogen dabei, um mehr geht es doch nicht. Alles was ich vorhabe, wird auch in Ihrem Sinne sein!“
Nichts. Dann kam der Moment, in dem ich es für notwendig hielt, der ganzen Angelegenheit einen offiziellen Anstrich zu geben. Ich zückte meinen Ausweis und hielt ihn gegen die verschlossene Tür.
„Hören Sie, Frau Schmidtke, was Sie jetzt nicht sehen können ist, dass ich gerade meinen offiziellen Ausweis an ihre Tür halte, der mich dazu berechtigt, mit Ihnen zu reden, Sie zu befragen und ihren Hund mit Fressproben zu versorgen. Frau Schmidtke, ich kann Ihnen nur empfehlen, zu kooperieren. Es wird Ihnen nichts passieren. Sie brauchen absolut keine Angst zu haben. Wir sind eine offizielle, international tätige und sehr friedfertige Organisation, die nur Gutes im Schilde führt. Uns liegt das Wohl unserer Kunden am Herzen. Frau Schmidtke, was Sie jetzt auch nicht sehen können, ich reiche Ihnen jetzt meine Hand. Greifen Sie zu! Nehmen Sie von mir ein Stück Glück! Nur darum geht es mir doch!“
Ich machte eine Pause und lauschte an der Tür. Mein Puls marschierte ordentlich und ich nahm einige tiefe Züge der kalten Treppenhausluft.
„Frau Schmidtke, das hat doch alles keinen Sinn! So kann es doch mit uns nicht weitergehen! Nun machen Sie schon auf! Ihr Hund wird mit einer halben Packung bestem Trockenfutter belohnt, soviel hab ich noch nie rausgerückt. Bedenken Sie das bitte! Ich appelliere ein letztes Mal an ihre Vernunft! Sollten Sie sich nach wie vor weigern mit mir zu reden, werde ich in meinem Fragebogen einen Vermerk machen. Mein Institut wird darüber nicht sehr erfreut sein. Strapazieren Sie bitte nicht die Friedfertigkeit unserer Organisation zu sehr. Wir können auch anders, Frau Schmidtke, jawohl, auch anders!“
Man sollte immer wissen, wann es genug ist. Ich wusste es nicht und bekam eine Quittung, die sich gewaschen hatte. Ich erinnerte mich noch dunkel, wie ein großer, stinkender, gewalttätiger Mann in Unterhose die Tür aufriss, mich am Schlafittchen packte, schüttelte und gegen die Treppenhauswand warf. Meine Hundefutterpackungen flogen nur so umher. Das übelriechende Monstrum eines Mannes schnappte sich drei meiner Packungen und verschwand brüllend in der Wohnung von Frau Schmidtke. Ich sammelte meine umherliegenden Packungen zusammen und tastete mich mit weichen, zitternden Knien aus dem Häuserblock. Es ging alles so wahnsinnig schnell vonstatten, dass ich noch nicht einmal genug Zeit hatte, mich zu entscheiden, ob Furcht oder Mut die richtige Reaktion gewesen wäre. Jetzt saß ich wieder auf meiner Parkbank und war wie von Angst gepackt. Angst vor großen, stinkenden Männern in Unterhosen. So konnte es nicht weitergehen, nicht einmal für die letzten paar Stunden, die ich noch vor mir hatte. Nur, es war mittlerweile mittags und keiner meiner restlichen fünfzig Fragebögen auch nur ansatzweise beschrieben. Ich begann, Namen und Adressen mir auszudenken und Kreuzchen zu machen. Am Abend werde ich mir meine Wunden lecken und trinken. Richtig trinken. Und ich werde diesen Straßenabschnitt