Rudolf Cronau: Drei Jahrhunderte deutsches Leben in Amerika - Teil 2. Rudolf Cronau
Zurückgebliebenen, was aus ihren nach Millionen zählenden ausgewanderten Landsleuten in der Fremde geworden, so vermöchten gewiss nur sehr wenige eine befriedigende Auskunft zu geben. Man verhielt sich in Deutschland gegenüber dem Schicksal seiner ausgewanderten Söhne bisher recht gleichgültig, indem man sich an die durchaus falsche Vorstellung gewöhnte, dass dieselben für ihr Vaterland wie für das deutsche Volkstum verloren seien. Man betrachtete sie als Faktoren, mit welchen man nicht länger rechnen dürfe. Man weiß nicht, was sie da draußen erlebten und verrichteten, ob sie im Elend verkamen oder es verstanden, eine achtunggebietende Stellung zu erringen.
Und die Ausgewanderten selbst? – Obwohl sie die Erfolge vieler ihrer Brüder vor Augen sehen, so sind auch sie über das, was die Gesamtmasse der Deutschen in Amerika leistete, doch nur oberflächlich unterrichtet. Weder sie, noch die neben ihnen wirkenden Amerikaner anderer Abstammung wissen, wie ungeheuer viel die großartig entwickelten Vereinigten Staaten von Amerika der rastlosen Arbeit, dem unermüdlichen Fleiß und der Intelligenz der Deutschen verdanken. –
An Geschichtswerken, welche die Vergangenheit Amerikas, den Ursprung und die Entwicklung der Vereinigten Staaten behandeln, ist zwar kein Mangel. Aber gegen diese Werke ist von vielen klarblickenden, nach historischer Wahrheit strebenden Forschern mit vollem Recht der Einwand erhoben worden, dass sie die Geschichte nur eines Teiles des amerikanischen Volkes, und zwar des aus England eingewanderten berücksichtigen, während auf die Vergangenheit und Leistungen der anderen Völkerelemente, die zum Aufbau der amerikanischen Nation beitrugen, entweder gar nicht oder nur sehr oberflächlich eingegangen sei. –
Beim Prüfen dieser Angelegenheit kann der mit der Entwicklungsgeschichte Amerikas Vertraute sich der Erkenntnis nicht entziehen, dass jener Einwand durchaus zutrifft. Fast alle in den vorhandenen Geschichtswerken geschilderten Ereignisse sind vom Gesichtswinkel des Anglo-Amerikaners, speziell des Neu-Engländers aus gesehen und beschrieben. Was andere Völkerelemente zur amerikanischen Kultur, zum Aufbau der Nation beitrugen, welche hervorragenden Männer sie lieferten, welche Taten dieselben verrichteten, was sie an Großem, Bleibendem schufen, blieb entweder unberücksichtigt oder wurde nur mit flüchtigen Strichen angedeutet, oft sogar absichtlich entstellt. Infolgedessen bildet sich bei den Lesern solcher Werke die irrige Anschauung, als ob die Anwesenheit der zahlreichen, nicht angelsächsischen Stämme auf amerikanischem Boden für die dort entstandene Kultur gar nichts bedeutet habe, und den Angelsachsen allein das Verdienst gebühre, das Material zum Aufbau der amerikanischen Nation geliefert und die Kultur derselben geschaffen zu haben.
So wenig aber eine Schilderung des Mississippi Anspruch auf Vollständigkeit erheben dürfte, die es unterließe, auch seine Hauptarme, den Missouri und Ohio zu beschreiben und ihre Bedeutung für die Größe und den Charakter des ganzen Stromsystems darzulegen, ebenso wenig können so einseitig aufgefasste Geschichtswerke wie die bezeichneten Anspruch auf den Titel einer „Geschichte des amerikanischen Volkes“ erheben.
Diese muss noch geschrieben werden. Und zwar unter gerechter Berücksichtigung aller verschiedenen Rassen- und Völkerelemente, aus denen sich das Volk der Vereinigten Staaten zusammensetzt und die in irgendeiner besonderen Weise zur amerikanischen Kultur beitrugen.
Das kann erst geschehen, wenn das erforderliche historische Material in Spezialwerken niedergelegt ist, die den Anteil der Deutschen, Iren, Schotten, Holländer und Skandinavier, der romanischen und slawischen Völker, der Israeliten, der indianischen, afrikanischen und mongolischen Rassen feststellen. Durch ausgedehnten Gebrauch solcher Spezialwerke kann die zu schreibende Geschichte der amerikanischen Nation an Interesse, Mannigfaltigkeit und Farbenreiz nur ungemein gewinnen. –
Wie zu dem in der Bundeshauptstadt Washington gen Himmel ragenden Monument zu Ehren des Begründers der Union, George Washington, fast alle Nationen des Erdballs Bausteine beitrugen, so mögen die in den Vereinigten Staaten ansässig gewordenen Vertreter solcher Nationen dies auch tun zu dem erhabenen Ruhmestempel der amerikanischen Geschichte. –
Der Verfasser dieses Buches bietet einen solchen Baustein, in der Überzeugung, dass die nach Millionen zählenden Abkömmlinge des deutschen Volkes, welche seit frühen Tagen in das Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten von Amerika einströmten, in jeder Beziehung ein gewaltiger Faktor waren, der nicht übersehen werden sollte.
Berlin, im Sommer 1909.
Rudolf Cronau.
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Die deutschen Sekten-Niederlassungen des 17. und 18. Jahrhunderts – Die Ursachen der Sekten-Auswanderung
Die deutschen Sekten-Niederlassungen des 17. und 18. Jahrhunderts
Die Ursachen der Sekten-Auswanderung
Kein Land der Erde erlitt jemals schrecklichere Heimsuchungen, als Deutschland während des 17. Jahrhunderts. Gleich einem verheerenden Sturmwind brauste zunächst der durch religiösen Zwiespalt heraufbeschworene Dreißigjährige Krieg durch alle Gauen, und ließ sie in einem solchen Zustande gänzlicher Zerrüttung zurück, dass Deutschland im wahren Sinne des Wortes einer großen Wüste mit einigen Kulturoasen darinnen glich. In Württemberg gingen in den Jahren 1634 bis 1641 über 345.000 Menschen zugrunde. In Sachsen wurden innerhalb der beiden Jahre 1631 und 1632 943.000 Personen erschlagen oder durch Seuchen weggerafft. Die blühende Pfalz, welche vor dem Krieg 500.000 Bewohner besaß, zählte zur Zeit des Friedensschlusses nur noch 43.000, darunter bloß 200 Bauern. Im preußischen Henneberg vernichtete der furchtbare Glaubenskrieg 68, im Eisenacher Oberland 90% aller Bewohner. In Meiningen waren in 19 Dörfern von 1.773 Familien nur noch 316 übrig. Im Nassauischen gab es Orte, die bis auf eine oder zwei Familien ausgestorben waren. Man nimmt an, dass Deutschlands Bevölkerung in jener Zeit sich von 17 auf nur 4 Millionen verminderte.
Dieser entsetzlichen Einbuße an Menschenleben entsprach der Verlust an Eigentum. Nach Hunderten zählten die zerstörten Ortschaften. In Württemberg lagen 8 Städte, 45 Dörfer, 158 Schulhäuser und Pfarrhäuser, 65 Kirchen und 36.000 Wohnhäuser in Asche. 80% aller Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen waren zugrunde gegangen. Bedeutende Teile des Reiches, die sich früher des blühendsten Wohlstandes erfreuten, blieben unbebaut, weil es an Saaten, Zugtieren und Werkzeugen fehlte, um die Felder zu bestellen. Die ganze Landwirtschaft war so zugrunde gerichtet, dass die Bevölkerung, trotzdem sie so schrecklich zusammengeschmolzen war, sich kaum zu ernähren vermochte.
Als Schleppenträgerinnen der Kriegsfurie folgten Hungersnot und Pestilenz. Von wahnsinniger Verzweiflung ergriffen, mordeten Eltern ihre eigenen Kinder, um deren Fleisch zur Sättigung zu benutzen. In Hessen und Sachsen, im Elsass und an anderen Orten hörte man von Menschenfressern, die Jagd auf Lebende machten, um sie zu verzehren.
In der Schrift „Excidium Germaniae“ heißt es: „Man wandert bei zehn Meilen und sieht nicht einen Menschen, nicht ein Vieh. In allen Dörfern sind die Häuser voll toter Leichname und Äser gelegen; Mann, Weib, Kinder und Gesinde, Pferde, Schweine, Ochsen und Kühe neben- und untereinander, von Pest und Hunger erwürget, von Wölfen, Hunden, Krähen und Raben gefressen, weil niemand gewesen, der sie begraben.“
Manche der Überlebenden, obdachlos und ohne Existenzmittel, scharten sich zu Räuberbanden zusammen, zogen sengend und plündernd von Hof zu Hof, nahmen den Bewohnern das letzte und boten den ohnmächtigen Regierungen Trotz.
Noch waren diese furchtbaren Leiden, welche der große Krieg den deutschen Landen geschlagen hatte, nicht verwunden, so kamen die Kriege gegen die Polen, Schweden, Türken und Franzosen. Nebenher gab es endlose Streitigkeiten der Reichsstände untereinander. Um das Elend voll zu machen, begingen die an verschwenderische Hofhaltung, glänzende Gelage und große Jagden gewöhnten großen und kleinen Landesherren an dem gewöhnlichen Volke die ärgsten Bedrückungen. Auf ihr Gottesgnadentum pochend und ihre Länder als persönliches Eigentum betrachtend, zwangen sie ihre Untertanen in ein entwürdigendes, von völliger Leibeigenschaft kaum noch zu unterscheidendes Knechtschaftsverhältnis.
In dieser langen Zeit des Leidens und des materiellen Elends schwand einem großen Teil des deutschen Volkes eine seiner edelsten Eigenschaften: der unternehmende kühne Mannesmut, der es seit den Tagen, wo es zum ersten Male in den Bereich der Geschichte