Jochen Kleppers Roman "Der Vater" über den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I - Teil 2. Jochen Klepper
den Worten des Psalms kam dem König die Nacht.
Er wusste nicht, als er an diesem Tag die Augen schloss, dass er nun für jegliches Kind seines Landes einen Erziehungsplan entworfen hatte, der jener hundertfach durchdachten Instruktion für seinen Ältesten nicht nachstand und im Letzten und Entscheidenden kein geringeres Ziel hatte, als einen frommen König und fromme Untertanen füreinander zu schaffen. Er sorgte nicht mehr nur für seine Erde. Der Mons pietatis erhob sich im Land.
* * *
Seit Wochen und Monden predigte die Königin: England.
Es war nicht die Geschwätzigkeit einer lebhaften Frau. Es war mehr, war leidenschaftlicher und tiefer. Vielleicht war es die dauernde Überwältigung durch allen Glanz dieser Welt, die zu jedem Augenblick bei ihr den schillerndsten Ausdruck fand. Vielleicht war es auch eine ständige Beschwingtheit, mit der sie kaum wahrnehmbare Anfänge sofort zu märchenhafter Vollendung auszuspinnen vermochte. Und das erfolgte nun in der Sprache kühner, kühler Politik. Es geschah mit dem Schein des Kalküls. Das ließ die Königin so glaubhaft erscheinen. Logische Beweisführungen, taktische Winkelzüge mussten ihr dazu dienen, die Maßlosigkeit und Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche zu verhüllen. Sie beherrschte das gesamte Vokabularium der Kabinette; sie dichtete in der Geheimsprache der Diplomatie. Dies war ihr Lebensinhalt; dies verlieh ihr das Gefühl der Größe; dies schuf ihr damals gerade auch den Ruf einer zu Höchstem befähigten und berufenen Fürstin.
Sie prüfte sich nie. Sie lernte und sie überlegte und sie wägte nicht. Ihr flog alles zu, um, von dem Überschwang ihrer Lebensbegeisterung gewaltig entfacht, zu irdischer Prophetie in ihrem Munde zu werden. Freilich, das Leben begann ihr erst von den Stufen der Throne an lebenswert oder auch nur beachtungswürdig zu werden. Nie hätte sie nach der Erde gefragt, die, nur durch eine dünne Schicht aus edlem Holz und teurem Stein vom Sockel der Throne getrennt, allein und endlich auch die Throne selber trug.
Rieb sie, wie es ihre Gewohnheit war, im Gespräch mit sehr Vertrauten ganz unbewusst die Handflächen rasch und leicht aneinander, so war es wie die Geste eines frohen, ungeduldigen und erwartungsvollen Kindes, das einer überwältigenden Überraschung schon völlig gewiss ist. Einen Augenblick danach aber saß sie dem gleichen Partner ihrer Unterhaltung – hoheitsvoll in ihren Sessel gelehnt, die Arme majestätisch auf die goldenen Lehnen aufgelegt – wie der Premierminister aller Premierminister gegenüber; und was sie redete, schien Weltgeschichte.
Nicht selten kam es nun vor, dass dann der König vor ihr stand, den Kopf ein wenig gesenkt: und recht still. Manchmal zog er sich auch eines ihrer Taburetts heran und saß schweigend vor ihr, den Blick zu ihr erhoben: ein Abgehetzter, Erschöpfter, Staunender. Was war, so fragte er sich dann, sein zäher Fleiß vor solcher Spannkraft; was war sein mühsames Zusammentragen angesichts solchen Weitblickes? Vielleicht waren die Welfen die größeren Herrscher –.
Auch diesen Irrtum hat die Königin ihm gegeben. Wie sollten nicht auch ihre Kinder sich in ihr täuschen.
Sahen sie, was nur in Potsdam geschah, ihren Vater schon am Morgen, so kam er eilig in der düsteren Uniform aus seinen Zimmern gestürzt, schien übernächtig, hatte schon wieder einen Riesenberg verdrießlichster, kleinlichster Arbeit hinter sich, jagte auf den Exerzierplatz hinaus, entschuldigte sich auf dem langen Gang vor seinen Zimmern bei dem wartenden Kabinettsrat: was war er, als ein armer, abgearbeiteter Beamter, als ein kleiner, dienstbeflissener Offizier, dem sein harter, hoher Chef nicht eine Atempause gönnte und dem er obendrein noch schlechten Sold gab?
So erschien den Kindern der Papa; denn die Türen, die er in der Eile offenstehen ließ, gaben dem Blick die Kahlheit und die Kärglichkeit getünchter Kammern mit gestrichenen Kiefern- und Fichtenholzmöbeln in dem harten Lichte unverhüllter, aufgerissener Fenster frei.
Aber die Morgen der Mutter, namentlich wenn man in Monbijou wohnte, waren voller Feier und Verklärung, gelassen und königlich, milde und stolz. Umblüht und vogelumsungen, von Wasserspielen umsprüht, lag Monbijou in langer Morgenstille. Die Sonne stand schon hoch am Himmel über dem Fluss, doch in den Sälen, Galerien und Nischen der Königin blieben noch immer all die gemalten, reich gestickten, golddurchwirkten, üppig sich bauschenden Vorhänge zugezogen, und der neue Tag wehte nur wie ein Golddunst durch die bunten Räume. Ein Engel, glänzenden, tief dunklen Haares und ganz in weißem Batist – mit ein wenig billiger Spitze –, schwebte die Ramen durch die ganze Flucht, silberne Kannen mit Rosenwasser und Gurkenmilch für das Lever und mit Schokolade für das Dejeuner der Herrin hoch über sich haltend. Dann erst, nachdem sie noch lange im Boudoir der Königin weilte, tat die Kammerfrau die Flügeltür auf, und lächelnd, von Spitzen, Locken, Perlenketten umflossen, trat die Mama von den Stufen des straußenfederngekrönten Prunkbettes. Die Vorsäle hatten sich mit ihren Damen gefüllt; in einem Rauschen von Brokat sanken sie alle in tiefe Verneigung; und über das Raunen und Neigen und Grüßen hinweg rief, ihre Hand der Welt entgegenstreckend, die Welfin: „Sind Briefe aus England?“
Selbst die kleinsten Prinzessinnen erschauerten selig, sie wussten: Dies war das Glück, der Glanz, das Fest ohne Ende, wenn Post aus England eingetroffen war. Wie anders konnten die Briefe in dieses sommerliche Schloss am Fluss gelangen, als auf möwenflinken Seglern übers Meer, auf weißen, jagenden Seglern und den geschwindesten, feurigsten Schimmeln der Welt!
Durch den Tross der Damen bahnte sich der junge Prinz den Weg, schnell einmal dem öden Unterricht drüben im großen Schlosse entwischt. Er eilte auf die Mutter zu und umarmte sie; aber sie empfand es anders als die formlose Art des Gemahls; am Sohne war es graziös und bestrickend, war Einfall und heitere Laune. Die Königin zog den Kronprinzen an sich; ihre Ringe leuchteten aus seinem Haar. Er war ihr die aufgehende Sonne, der Anbruch strahlenderen Lebens, der Träger ihrer Träume. Post aus England war nun zwar nicht eingetroffen, aber in dem ganzen Morgen war ein Überschwang so ohnegleichen. Das Pensum, das der König dem Thronfolger verordnet hatte, blieb unerledigt.
Ihre Majestät bestellte die Kronprinzenerzieher zu sich. Sie handelten, so sagte sie, im höchsten Interesse des Königs, wenn sie den Prinzen etwas mehr den von ihr selbst vorgeschlagenen Beschäftigungen und Betätigungen überließen. England verspreche sich von ihrem Sohn –.
Ach, England versprach sich von dem Kronprinzen von Preußen nur das Schönste: Flötenmusik, Cembalospiel, Violinkadenzen, Gartenkomödien, hymnische Poeme, erhabene Zitate... Die Welt war dem Prinzen von Klängen und Versen durchrauscht.
Fragt einen jungen Prinzen mit übergroßen, schwärmerischen blauen Augen, wo er wohl das Königliche dieser Erde zu erblicken vermag – bei dem gehetzten Mann im simplen blauen Rock oder bei der lächelnden, ruhenden, feiernden, ewig die Glorie verheißenden, in Juwelen strahlenden, Weltgeschichte kündenden, von machtvollen Hoffnungen hingerissenen Frau, die den Knaben in den Mittelpunkt des Erdballs stellt!
Der König spürte, dass er seinen Sohn an die Sallets à la grecque der Gemahlin verlor.
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Die Furcht vor ‚Dem König von Preußen‘, der die Generationen des Geschlechtes überdauerte und dessen Knecht er lediglich war, teilte Friedrich Wilhelm I. auch seinem ältesten Sohn mit, der dem gleichen Schicksal, wie er selbst es trug, entgegenwuchs. Die Furcht vor jenem unbekannten Herrn verband ihn mit dem Sohn wohl am tiefsten; er wollte Friedrich wappnen gegen solche Forderung und Härte. Aber die eigene Strenge gegen den Sohn, die daraus folgte, stieß seinen Ältesten von ihm. Der Vater war der ewig Warnende, der unablässig Fordernde, Gebietende; die Mutter begegnete ihm als die tagtäglich Schenkende, Lockende, Verheißende. Der Vater vereidigte seinen Ältesten auf die Instruktion eines preußischen Militärs und Beamten; die Mutter steckte ihm den schönen Roman zu, der von der Großen Welt der Könige erzählte.
Sie ahnte nicht, dass diese ihre Große Welt dem lesenden Knaben gar bald sehr eng werden würde und dass neue Gefilde sich vor ihm eröffneten, von deren Weite sie nicht eine ferne Ahnung hatte. Die Mutter gelobte ihm ein glanzvolles Königreich, wo der Vater ihm nur sandverwehte Äcker zu hinterlassen versprach. Der Sohn aber begründete sich selbst eine Welt. Er hatte vor dem stetig Fordernden die Flucht in die Bücher gelernt.
Vom Vater kamen nur Verbote, die schlechthin alles betrafen, was nicht unmittelbar der Vorbereitung auf das Amt des Königs