Der dritte Versuch Magische Wesen. Norbert Wibben
weitere Gefahr auf ihn lauern, dann ist es sicher besser, zu flüchten. Alles in ihm rät zur Flucht. Nur schnell weg von hier. Doch halt, das Geräusch wurde von Blättern verursacht, erkennt er jetzt. Der Wind hat wohl trockenes Laub vor sich hergetrieben, auch wenn er im Wald nicht so ungehindert wehen kann. Plötzlich kommen zwei leuchtende Augen auf Finn zu, die innerhalb eines hellen, herzförmigen Gesichtes sitzen. Adrenalin schießt in seine Blutbahn, setzt ihn in höchste Alarmbereitschaft. Er macht einen verzweifelten Sprung seitwärts und rast los. Obwohl das Verhalten nicht zu seiner augenblicklichen Gestalt passt, schlägt er jetzt wieder unerwartet einen Haken. Diese Bewegung rettet ihm das Leben. Spitze, tödliche Krallen verfehlen ihn nur knapp. Warum hat er sich nur für diese Gestalt entschieden? Eine Haselmaus ist wirklich nicht besonders geeignet, um große Gefahren zu überstehen. Außerdem ist er so nicht nur den Tagjägern, sondern auch denen der Nacht, fast schutzlos ausgeliefert. Finn schüttelt den kleinen Kopf. Er darf sich jetzt nicht unnötigen Überlegungen hingeben. Seine schwarzen, kleinen Knopfaugen suchen nach einem Versteck, während er vorwärts hastet.
»Gibt es hier denn kein Loch oder eine kleine Höhle?« Er duckt sich, wühlt sich unter einen umgestürzten Baum und versucht, auf der anderen Seite hervorzukommen. Doch der Schlupfweg ist enger als erwartet. Mit mehreren heftigen und verzweifelten Rucken zwängt er sich durch und rast vorwärts. Plötzlich streckt die kleine Maus die Beine nach vorne und bremst ab. Erneut verfehlen die Krallen sie. Die Eule hätte sie gleich gehabt, wäre sie weitergelaufen. Der Nachtvogel stößt einen schrillen Schrei der Enttäuschung aus. Finns Herz rast. Es scheint aus der kleinen Brust springen zu wollen. »Bin ich denn total verblödet?« Er dreht schnell um und ist mit wenigen Sprüngen bei dem liegenden Baum, unter dessen Stamm er sich in den lockeren Humus wühlt. Er vernimmt einen erneuten Schrei der Eule, die jetzt vermutlich in der Nähe auf einem Ast hockt und darauf wartet, dass er sich erneut blicken lässt.
Nur langsam beruhigt sich Finns Herzschlag. Sein kleiner Körper zittert nach der überstandenen Jagd. Er spürt die Todesangst, die ihn umklammert hält. Soll er versuchen, weiterzukommen. Nein. Der Nachtjäger wird nicht so schnell aufgeben. Also muss er sich noch gedulden. Falls der Raubvogel keine andere Beute finden sollte, kann das möglicherweise sogar bis zum Morgen dauern. Aber dann will und muss er zu seinem Ausbilder zurückkehren.
Seine Gedanken kehren zum Beginn seiner Flucht zurück. Er erinnert sich daran, wie gestern ein rötlicher Mond in seine Kerkerzelle hereinleuchtete. Finn kennt die Bezeichnung für dieses seltene Schauspiel. Wegen der rötlichen Färbung wird der Himmelskörper von den Menschen »Blutmond« genannt. In dessen Schein gelang es dem jungen Elfen endlich, seine silbernen Handschellen aufzubrechen. Er spürt auch noch als Maus die Druckstellen, die sie an seinen Handgelenken hinterlassen haben. Wie ihm das Kunststück gelungen ist, weiß Finn nicht wirklich. Ein Hilfsmittel, das er als Werkzeug einsetzen konnte, hatte er in den Wochen seiner Gefangenschaft nicht entdecken können. Er wurde nur unregelmäßig von einer vermummten und schweigsamen Person mit Nahrung versorgt, die aber auf keine Frage von ihm reagierte. Das Essen schmeckte seltsam, hielt ihn aber bei Kräften. Es gab immer nur eine Art Suppe, die in zerbrechlichen Tonschalen gebracht wurde. Erst, wenn er die geleerte Schale nach etwa einer Stunde unversehrt zurückgab, bekam er am kommenden Tag eine neue. So war es ihm unmöglich, diese als Hilfsmittel zur Befreiung zu nutzen.
Also versuchte er irgendwann, die Kettenglieder, die von den Handschellen zur Kerkerwand führten, zwischen Handgelenk und Handschellen hindurchzuzwängen. Mit Hilfe der eisernen Kettenglieder gelang es wider Erwarten relativ einfach, das weichere Silber zu quetschen, bis es schließlich zerbrach. Als er das geschafft hatte, atmete der Elf auf, da er jetzt seine Zauberkräfte nutzen konnte. Zuerst massierte er seine Handgelenke und trat zur Kerkertür, um zu horchen. Da tagein, tagaus ein dumpfes Dröhnen zu hören war, glaubte er nicht, dass das leise Klirren seiner Ketten gehört worden war. Aufatmend stellte er die Richtigkeit seiner Vermutung fest. Zwischen den dunklen, wiederkehrenden Tönen waren keine Geräusche von näherkommenden Schritten zu hören.
Jetzt musste er sich entscheiden, welche seiner magischen Fähigkeiten er nutzen sollte. Obwohl Finn für einen Elf noch sehr jung ist, mit 28 Jahren zählt er bei den Mittelelfen zu den Jugendlichen, wollte er nicht übereilt vorgehen. Er überdachte also seine Situation.
Er befand sich auf der Heimreise von einem Besuch in der Heimat, bei den Elfen der Mitte, zu seinem Ausbilder im Osten. Bei dem Ritt auf einem Weg durch einen Laubwald bekam er völlig unerwartet einen Schlag gegen den Kopf. Den Hinterhalt und die daran Beteiligten hatte er weder gesehen noch gehört. Als der junge Elf mit einem fürchterlichen Brummen im Kopf erwachte, war er gefesselt und lag mit verbundenen Augen bäuchlings über einem Pferderücken. Finn wurde von mehreren Reitern begleitet, was er aus den Geräuschen folgerte, die er vernahm. Die Reiter unterhielten sich nur wenig. Wenn sie es taten, erfolgte es stets im Flüsterton, so dass er weder etwas verstehen noch erkennen konnte, wer sie waren oder woher sie kamen. Während des zwei Tage dauernden Ritts bekam er keine Nahrung. Am dritten Tag wurde er unsanft vom Rücken des Tieres gezogen und auf den Boden geworfen. Ihm war längere Zeit schwindelig, was eine Folge der ungewohnten Reitposition oder auch die Nachwirkung des Schlags auf den Kopf sein konnte. Jedenfalls bekam er nicht mit, was in der kurzen Unterhaltung geredet worden war. Schließlich wurden seine Fußfesseln gelöst. Die Augenbinde und seine Handfesseln aus Silber blieben jedoch wo sie waren. Er bekam endlich etwas zu trinken. Gierig nahm er einen großen Schluck, der ihm brennend die Kehle hinunterlief. Prustend und hustend übergab er sich, was ein mehrstimmiges Gelächter zur Folge hatte.
Finn wollte fragen, warum man ihn gefangen genommen hatte, noch dazu auf diese gemeine Art und Weise. Er wusste von keiner Auseinandersetzung mit einem anderen Volk. Außer einem heiseren Krächzen bekam er aber keinen Ton heraus. Er hustete erneut und wurde grob hochgerissen. Im nächsten Moment hörte er ein Murmeln und die Geräusche der Umgebung änderten sich schlagartig. Finn meinte, dass er sich nun in einem Gebäude befinden müsste. Also war er gerade mittels Zauberkraft, durch einen magischen Sprung, wohin auch immer gereist.
»Stufe!«, wurde ihm kurz von einer rauen Stimme zugerufen, dann bekam er auch schon einen Stoß in den Rücken. Er machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts und stolperte, da er die Stufe wegen der Augenbinde nicht sehen konnte. Die Schmerzen in seinen Knien, mit denen er unsanft gegen eine Steinkante gestoßen war, trieben ihm unwillkürlich die Tränen in die Augen. Seine Bemühungen, trotz der gefesselten Hände aufzustehen, wurden von einem lauten Lachen begleitet. Als er es schließlich geschafft hatte, bekam er erneut einen Stoß in den Rücken. Gleichzeitig forderte die Stimme: »Nach oben, aber ohne weitere Zwischenfälle.«
Finn überlegte kurz, ob er die Stimme schon einmal gehört haben könnte, fand aber keine Zuordnung. Als er ein unwirsches Knurren vernahm, suchte er nach einem Handlauf, konnte aber keinen finden. Also tastete der Elf vorsichtig mit den Füßen und kam langsam, Stufe für Stufe, nach oben. Warum er nicht mittels magischem Sprung direkt nach oben gebracht worden war, blieb ihm unerklärlich. Vielleicht wollte sich sein Bewacher einfach nur einen Spaß erlauben.
Finn weiß, Menschen und Elfen sehen sich sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer möglichen Lebenserwartung und darin, dass sich Elfen sehr viel schneller bewegen können. Einem Reiter ist meist jedoch nicht anzusehen, ob er zu den Elfen gehört. Seit vielen Jahrzehnten gab es nicht mehr nur unter den Elfen, sondern auch unter den Menschen Zauberer. Obwohl seine Gegner nicht sicher wissen konnten, ob er magische Fähigkeiten besitzt, hatten sie ihn vorsorglich mit silbernen Handschellen gefesselt. Das stellte er fest, als ihm in seiner Kerkerzelle, die sich in einem Turm befand, die Augenbinde entfernt wurde. Im ersten Moment musste er heftig blinzeln, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte. Ein kleines Fenster ließ grelles Sonnenlicht in seine Augen stechen. Sein Wächter war in einen dunklen Umhang mit Kapuze gehüllt und befestigte Finns Handschellen an starken Eisenketten, die in einer Mauer verankert waren. Ohne ein weiteres Wort verließ ihn der Mann, knallte die Kerkertür zu, steckte einen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Warum diese doppelte Vorsichtsmaßnahme angewendet wurde, konnte sich der junge Elf nicht erklären.
Finn wusste nicht, warum er hier gefangen gehalten wurde. Einen persönlichen Grund schloss er aus. Selbst nach Tagen hatte er noch keine Ahnung, wer ihm das antat oder warum und auch nicht, wo er sich befand. Er wurde nicht verhört und konnte sich darum auch keine