Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola
Ziffern ihr Preis zu lesen war.
»Famos!« rief Jean, der keinen anderen Ausdruck für seine Bewunderung fand.
Auch er stand unbeweglich mit offenem Munde da. Beim Anblick all dieses weiblichen Luxus war er errötet vor Vergnügen. Er war hübsch wie ein Mädchen, von einer Schönheit, die er seiner Schwester geraubt zu haben schien, mit rosig schimmernder Haut, blondem, gelocktem Haar, verführerisch frischen Lippen und hellen Augen. Neben ihm erschien Denise noch unbedeutender mit ihrem schmalen Gesicht, der matten Farbe und dem fahlen Haar. Pépé mit dem hellblonden Kinderschopf drückte sich enger an sie, wie von einem unbestimmten Verlangen nach Liebkosungen getrieben. Sie bildeten eine so seltsame, reizende Gruppe, diese drei Blondköpfe in ihren abgenützten Trauerkleidern, das ernste Mädchen zwischen dem hübschen Kind und dem prächtigen Jüngling, daß die Vorübergehenden sich lächelnd nach ihnen umwandten.
Auf der Schwelle eines Ladens auf der anderen Seite der Straße stand seit einigen Augenblicken ein dicker, weißhaariger Mann mit breitem, gelblichem Gesicht und beobachtete die Gruppe. Mit zornfunkelnden Augen und zusammengekniffenen Lippen hatte er nach den Auslagen des »Paradieses der Damen« hinübergesehen, und der Anblick des Mädchens mit seinen beiden Brüdern erbitterte ihn noch mehr. Was hatten die Taugenichtse vor dieser marktschreierischen Auslage zu gaffen?
»Und der Onkel?« fragte Denise plötzlich, wie aus einem Traum auffahrend.
»Wir sind in der Rue de la Michodière«, sagte Jean. »Hier muß er wohnen.«
Sie hoben die Köpfe und blickten sich um. Da sahen sie gerade vor sich oberhalb der Tür, in welcher der dicke Mann stand, ein grün gestrichenes Firmenschild, auf dem in gelber, verwaschener Schrift zu lesen war: »Vieil Elbeuf, Tuch- und Flanellhandlung Baudu, vormals Hauchecorne«. Es war ein schmales Haus mit schmutziggrauem Verputz, eingezwängt zwischen den hohen Nachbargebäuden. Denise, in Gedanken noch bei den Herrlichkeiten des gegenüberliegenden Warenhauses, betrachtete überrascht den niedrigen Laden im Erdgeschoß, über dem ein ebenfalls nicht sehr hoher Zwischenstock mit halbmondförmigen Fenstern lag, die ihm das Aussehen eines Gefängnisses gaben. Rechts und links sah man zwei finstere, verstaubte Auslagen, in denen man undeutlich einen Haufen Stoffe erkennen konnte. Die offene Ladentür schien in einen feuchten, dunklen Keller zu führen.
»Da ist's«, sagte Jean.
»Nun, dann wollen wir hineingehen. Komm, Pépé!«
Sie fühlten sich alle drei scheu und unsicher. Als ihr Vater gestorben war, hinweggerafft von dem gleichen Fieber, dem einen Monat zuvor ihre Mutter erlegen war, hatte zwar der Onkel Baudu in der ersten Gefühlsregung über diesen doppelten Todesfall seiner Nichte geschrieben, es werde sich in seinem Hause stets ein Plätzchen für sie finden, wenn sie nach Paris kommen wolle, um hier ihr Glück zu versuchen; allein seit jenem Brief war fast ein Jahr verflossen, und Denise bereute jetzt, daß sie Valognes so plötzlich verlassen hatte, ohne ihren Onkel vorher zu verständigen. Er kannte sie gewiß nicht mehr, denn er war nie wieder in seine Heimat gekommen, seitdem er fortgegangen war, um als kleiner Gehilfe bei dem Tuchhändler Hauchecorne einzutreten, dessen Schwiegersohn er schließlich geworden war.
»Herr Baudu?« entschloß sich Denise endlich den dicken Herrn zu fragen, der sie noch immer verwundert betrachtete.
»Der bin ich!« lautete die Antwort.
Denise errötete und fügte stotternd hinzu:
»Ah, um so besser!... Ich bin Denise, und das ist Jean und das Pépé... Wie Sie sehen, sind wir gekommen, lieber Onkel.«
Baudu schien höchlichst betroffen. Seine großen, geröteten Augen flackerten in seinem gelblichen Gesicht, seine zögernden Worte zeigten seine Verwirrung. Er war offenbar tausend Meilen weit von dieser Familie entfernt, die ihm so unvermutet in seinen Laden fiel.
»Was, ihr hier?« wiederholte er mehrmals. »Aber ihr wart doch in Valognes! Warum seid ihr denn nicht dortgeblieben?«
Mit ihrer weichen, etwas zitternden Stimme erklärte sie ihm alles. Nach dem Tod ihres Vaters, der in seiner Färberei alles verwirtschaftet hatte, war sie gleichsam als die Mutter der beiden Kinder zurückgeblieben. Was sie bei Cornaille verdiente, reichte nicht hin, um alle drei zu ernähren. Jean arbeitete zwar bei einem Kunsttischler, der sich mit dem Aufarbeiten antiker Möbel beschäftigte, aber er verdiente keinen Sou dabei. Dagegen gewann er Geschmack an alten Dingen und begann Figuren aus Holz zu schnitzen. Eines Tages fand er irgendwo ein Stück Elfenbein und machte einen Kopf daraus; diese Arbeit gefiel einem vorübergehenden Herrn dermaßen, daß er den Geschwistern wenig später zuredete, nach Paris zu gehen, wo er für Jean einen Platz bei einem Elfenbeinschnitzer gefunden hatte.
»Jean fängt also morgen bei seinem neuen Lehrherrn an«, schloß Denise. »Ich brauche kein Lehrgeld zu bezahlen, Kost und Wohnung hat er frei. Ich dachte mir, daß ich und Pépé schon irgendwie unser Fortkommen finden werden. Schlimmer als in Valognes kann es uns doch hier nicht gehen.«
Eines allerdings verschwieg sie: eine Liebesgeschichte Jeans. Er hatte an ein junges Mädchen, die Tochter einer adeligen Familie der Stadt, Briefe geschrieben und über eine Mauer hinweg Küsse mit ihr ausgetauscht. Daraus war ein kleiner Skandal entstanden, der sie bestimmt hatte, Valognes zu verlassen. Sie begleitete ihren Bruder hauptsächlich nach Paris, um über ihn zu wachen; denn ihr Herz war von wahrhaft mütterlicher Besorgnis erfüllt, wenn sie diesen schönen und munteren Jungen sah, den alle Frauen anhimmelten.
Onkel Baudu konnte sich noch immer nicht fassen. Er begann wieder zu fragen.
»Hat denn dein Vater euch nichts hinterlassen? Ich dachte, er habe einen Sparpfennig. Ich habe ihm in meinen Briefen oft genug geraten, diese Färberei nicht zu übernehmen. Ein gutes Herz, aber nicht für zwei Sou Verstand! ... Und du bist mit diesen Jungen zurückgeblieben und hast sie versorgen müssen?!«
Sein galliges Gesicht belebte sich; er sah nicht mehr so finster drein wie vorhin, als er das »Paradies der Damen« betrachtet hatte. Plötzlich bemerkte er, daß er den Eingang verstellte.
»So kommt herein«, rief er, »wenn ihr schon hier seid! Kommt herein, das ist gescheiter, als vor den Dummheiten dort drüben Maulaffen feilzubieten.«
Nach einem letzten Zornesblick auf das Geschäft gegenüber machte er den Kindern Platz, so daß sie eintreten konnten. Zugleich rief er Frau und Tochter.
»Elisabeth, Geneviève! Kommt, hier sind Gäste für euch!«
Aber Denise und die beiden Jungen zögerten angesichts des dunklen Ladens. Noch geblendet vom hellen Licht der Straße, blinzelten sie mit den Augen, tasteten sich mit den Füßen voran und rückten enger zusammen.
»Kommt, kommt!« wiederholte Baudu seine Einladung.
Er klärte Frau und Tochter in kurzen Worten auf. Frau Baudu war sehr blaß, offenbar bleichsüchtig, mit grauen Haaren, farblosen Augen und blutleeren Lippen; Genevieve, bei der sich die Krankheit ihrer Mutter noch deutlicher zeigte, war gebrechlich und farblos wie eine im Schatten aufgewachsene Pflanze. Nur eine Fülle von prächtigen schwarzen Haaren verlieh ihr einen etwas schwermütigen Reiz.
»Kommt herein!« sagten nun auch die beiden Frauen. »Seid willkommen!«
Sie ließen Denise hinter einem Ladentisch Platz nehmen. Pépé setzte sich sogleich auf ihre Knie, während Jean, an einen Schrank gelehnt, neben ihr stand. Sie wurden allmählich sicherer und blickten im Laden umher, an dessen Dunkelheit sich ihre Augen langsam gewöhnten. Düstere Warenballen türmten sich bis zur Decke empor. Der Geruch der Tücher und Stoffe wurde durch die Feuchtigkeit des Fußbodens noch verstärkt. Zwei Gehilfen und eine Verkäuferin waren im Hintergrund damit beschäftigt, weißen Flanell fortzuräumen.
»Der kleine Herr da möchte vielleicht etwas essen?« sagte Frau Baudu und wies lächelnd auf Pépé.
»Nein, danke«, erwiderte Denise; »wir haben in einem Cafehaus vor dem Bahnhof eine Tasse Milch getrunken.«
Als sie merkte, daß Genevieve aufmerksam das leichte Bündel betrachtete, das sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, fügte sie hinzu:
»Ich