Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur. Emile Zola

Das Paradies der Damen: mehrbuch-Weltliteratur - Emile Zola


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      »Nummer zehn.«

      »Nummer zehn? Das ist Albert, nicht wahr?« fragte Mouret, zu Bourdoncle gewandt. »Wir werden mit dem jungen Herrn ein Wörtchen reden.«

      Vor seinem Rundgang durch das eigentliche Geschäft wollte er jedoch noch in die Versandabteilung hinauf, die mehrere Räume des zweiten Stocks einnahm. Hier liefen alle Bestellungen aus der Provinz und dem Ausland zusammen. Mouret kam jeden Morgen, um sich die Korrespondenz anzusehen. Seit zwei Jahren wuchs sie von Tag zu Tag. Ursprünglich waren hier zehn Angestellte beschäftigt gewesen, jetzt konnten dreißig nur mit Mühe die Arbeit bewältigen.

      Oben angelangt, fragte Mouret wie gewöhnlich:

      »Wieviel Briefe haben wir heute, Levasseur?«

      »Fünfhundertvierunddreißig«, erwiderte der Abteilungsleiter.

      »Ich fürchte, daß ich nach Eröffnung des Sonderverkaufs mit meinen Leuten nicht auskommen werde. Gestern sind wir nur mit knapper Not fertig geworden.«

      Bourdoncle nickte befriedigt. An einem Dienstag hatte er nicht mit fünfhundertvierunddreißig Briefen gerechnet.

      Dies war eine der kompliziertesten Abteilungen des Hauses, denn es war Vorschrift, daß alle am Morgen eingelaufenen Bestellungen bis zum Abend ausgeführt sein mußten.

      »Sie sollen so viel Leute bekommen, wie Sie brauchen, Levasseur«, sagte Mouret, der mit einem Blick festgestellt hatte, daß hier alles reibungslos lief.

      Im Stockwerk darüber, unter dem Dach, befanden sich die Schlafkammern der Verkäuferinnen. Doch Mouret ging jetzt hinunter und begab sich zur Hauptkasse, die neben seinem Arbeitszimmer lag. Der Raum war durch eine Glaswand mit Gitterfenstern gesichert: im Hintergrund sah man, in die Mauer eingelassen, einen riesigen Stahlschrank. Zwei Kassenführer verwalteten hier die Einnahmen, die Lhomme, der erste Kassierer, jeden Abend heraufbrachte; sie bestritten daraus sämtliche Ausgaben, bezahlten die Fabrikanten, das Personal und alle die Leute, die zu der kleinen Welt des Geschäfts gehörten. Von der Kasse gelangte man in einen zweiten Raum, wo zehn Angestellte damit beschäftigt waren, die Fakturen zu prüfen. Dann kam die Abrechnungsstelle; hier waren sechs junge Leute dabei, die Provisionsforderungen der Verkäufer an Hand der Kassenblocks zu überprüfen. Diese erst kürzlich eingerichtete Abteilung funktionierte schlecht.

      Als Mouret und Bourdoncle plötzlich eintraten, fuhren die jungen Leute, die sich unterhalten hatten, anstatt zu arbeiten, überrascht zusammen. Anstatt ihnen einen Verweis zu geben, setzte Mouret ihnen auseinander, daß er ihnen von nun an für jeden Fehler, den sie in den Kassenabrechnungen entdeckten, eine kleine Prämie aussetzen wolle. Als er hinausgegangen war, hatte das Lachen und Scherzen ein Ende; die Angestellten stürzten sich mit einem wahren Feuereifer auf ihre Arbeit und suchten nach Fehlern.

      Im Erdgeschoß ging Mouret geradeswegs auf die Kasse zehn los, wo Albert Lhomme auf Kunden wartete und sich soeben die Nägel polierte. Man sprach im Hause schon von der »Dynastie Lhomme«, seitdem Frau Aurélie, die Direktrice der Konfektionsabteilung, zuerst ihrem Mann den Posten des ersten Kassierers und dann auch noch ihrem Sohn die Stelle eines Abteilungskassierers verschafft hatte. Albert war ein blasser, liederlicher Bursche, der es nirgends lang aushielt und ihr viel Kummer machte.

      Als sie bei dem jungen Mann angekommen waren, trat Mouret in den Hintergrund; es widerstrebte ihm, sich durch die Rolle des Gendarmen etwas zu vergeben; er wollte lieber der väterliche Gebieter bleiben. Er stieß Bourdoncle, den Zahlenmenschen, leicht mit dem Ellbogen an und betraute ihn wie üblich stillschweigend mit dem Strafgericht.

      »Herr Albert«, sagte Bourdoncle laut, »Sie haben schon wieder eine Adresse falsch notiert, und das Paket ist zurückgekommen! ... Das geht so nicht weiter!«

      Der junge Kassierer suchte sich zu verteidigen und rief den Laufburschen Joseph, der das Paket fertiggemacht hatte, als Zeugen herbei. Dieser Joseph gehörte auch zur Dynastie Lhomme; er war ein Milchbruder Alberts und verdankte seine Stelle ebenfalls dem Einfluß von Frau Aurélie. Als Albert ihn drängen wollte, zu sagen, die Kundin sei selbst an dem Irrtum schuld, begann er zu stottern und zupfte an seinem schütteren Bart, der sein blatternarbiges Gesicht noch länger erscheinen ließ; er schwankte zwischen seiner Ehrlichkeit und der Dankbarkeit gegenüber seinen Beschützern.

      »Lassen Sie doch Joseph in Ruhe!« rief Bourdoncle endlich, »und widersprechen Sie nicht immer! ... Ihr Glück, daß wir auf die guten Dienste Ihrer Mutter Rücksicht nehmen!«

      In diesem Augenblick eilte der alte Lhomme herbei. Von seiner nahe an der Tür gelegenen Kasse aus konnte er die seines Sohnes sehen, die in der Handschuhabteilung lag. Er war schon ganz weißhaarig und durch das immerwährende Sitzen schwerfällig geworden; sein Gesicht war fahl und verschwommen. Er war der Sohn eines Steuereinnehmers aus Chablis und hatte als Kontorist bei einem Weinhändler in Paris angefangen. Eines Tages hatte er die Tochter seines Hausmeisters, eines kleinen Elsässer Schneiders, geheiratet. Seither stand er unter der unbestrittenen Herrschaft seiner Frau, deren kaufmännische Fähigkeiten ihn mit Achtung erfüllten. Sie verdiente in der Konfektionsabteilung zwölftausend Franken, während er nicht mehr als fünftausend hatte. Und die Nachgiebigkeit gegenüber dieser Frau, die solche Summen ins Haus brachte, erstreckte sich auch auf ihren Sohn.

      »Wie?« murmelte er, »hat Albert etwas falsch gemacht?« Seiner Gewohnheit gemäß mengte sich jetzt Mouret in die Sache ein, um die Rolle des gütigen Herrschers zu spielen. Wenn Bourdoncle Schrecken um sich verbreitet hatte, kam Mouret, um für seine Beliebtheit zu sorgen.

      »Eine Dummheit«, sagte er. »Mein lieber Lhomme, Ihr Albert ist ein Wirrkopf; er sollte sich seinen Vater zum Vorbild nehmen.«

      Um sich noch liebenswürdiger zu zeigen, wechselte er das Thema.

      »Wie war das Konzert neulich? Hatten Sie einen guten Platz?«

      Die blassen Wangen des alten Kassierers färbten sich rot. Er besaß nur diese eine Leidenschaft: die Musik – ein heimliches Vergnügen, dem er sich ergab, indem er alle Theater, Konzerte, Generalproben besuchte. Obgleich ihm der eine Arm abgenommen war, spielte er mit Hilfe eines sinnreichen Systems von Klammem Waldhorn; und da seine Frau keine lauten Geräusche duldete, hüllte er am Abend, wenn er spielte, sein Instrument in ein Tuch ein, vollkommen befriedigt durch die seltsam dumpfen Töne, die er ihm auf solche Weise entlockte. In seinem zerrütteten Haushalt gewährte die Musik ihm Trost. Sie und seine Kasse – etwas anderes kannte er nicht, außer der Achtung vor seiner Frau.

      »Einen sehr guten Platz«, erwiderte er mit funkelnden Augen.

      »Sie sind zu gütig, Herr Mouret.«

      Mouret, der ein Vergnügen daran fand, die Leidenschaften anderer zu befriedigen, pflegte Lhomme die Konzert- und Theaterkarten zu schenken, die ihm von wohltätigen Damen aufgeredet worden waren.

      Bourdoncle hatte unterdessen den Rundgang schon fortgesetzt. In der Mittelhalle, einem mit Glas überdachten Innenhof, befand sich die Seidenabeilung. Sie folgten zunächst einem Gang an der Seite der Rue Neuve-Saint-Augustin, an dem vom einen Ende bis zum andern Weißwaren ausgestellt waren. Sie fanden nichts Auffallendes und gingen langsam durch die Reihen der achtungsvoll dastehenden Angestellten. Dann kamen sie durch die Abteilungen für Baumwollstoffe und für Wirkwaren, wo die gleiche Ordnung herrschte. In der Wollwarenabteilung aber nahm Bourdoncle seine Rolle als Scharfrichter wieder auf, als er an einem Ladentisch einen jungen Mann hocken sah, dem man eine schlaflos durchjubelte Nacht am Gesicht ablesen konnte. Der Gescholtene, Liénard mit Namen, Sohn eines reichen Modewarenhändlers in Angers, duckte sich unter diesen Vorwürfen, denn in seinem Dasein voller Trägheit, Sorglosigkeit und Vergnügungen fürchtete er nur eines: von seinem Vater nach Hause gerufen zu werden.

      Von da ab regnete es die Rügen hageldicht, ein wahres Gewitter ging über die Angestellten nieder. Den Abschluß machte die Handschuhabteilung: hier hatte einer der wenigen Pariser, die im Hause tätig waren, der hübsche Mignot, sich über das Essen beklagt. Es gab drei Tischzeiten: die erste um halb zehn, die zweite um halb elf, die dritte um halb zwölf Uhr. Mignot, der zur dritten Schicht gehörte, behauptete, er bekomme von allem nur ungenießbare Reste.

      »Wie, das Essen ist nicht gut?«


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