Ausgebombt. Heike Susanne Rogg
von wo aus die Minipiloten das Land erkunden.
Gibt es mal keine Erfolge nachzuspielen, treffen sich Christian, Hans-Lothar, Hilmar, Wolfgang, Rolf, Marie und Anna am Zugang der Drahtbrücke. Gemeinsam ziehen sie in eine Nachbarstraße im Blücherviertel.
Die ›Sternstraßenkinder‹ (Foto: W. Tilcher)
Damit keine Langeweile aufkommt, liefert man sich ›Straßenkämpfe‹ mit den dort wohnenden Kindern. Diese verteidigen natürlich ihr Revier. Kommt es dabei mal zu kleineren Verletzungen, öffnen Anna und Marie ihre Brottaschen und verarzten die tapferen Krieger mit dem mitgebrachten Pflaster.
Die wichtigste Waffe dabei ist die selbstgebaute Zwille, die jeder Junge in der Hosentasche trägt. Die von Christian erfordert eines Tages zwei Todesopfer, als er damit auf die Nachbarhühner schießt. Nicht nur die Mutter seines Freundes Hans-Lothar ist stocksauer über seine Treffsicherheit, auch Christians Mutter ist nicht begeistert. Sie muss die Hühner teuer bezahlen. Christian bedauert nur, dass sie dafür die Hühner nicht mitnehmen dürfen. Sie hätten bestimmt prima geschmeckt.
Seine Treffsicherheit bringt ihm auch einmal zwei Ohrfeigen ein: Zusammen mit Wolfgang und Rolf beschießt er einige Wassersportler auf dem Fluss. Plötzlich dreht einer der Paddler bei und kommt auf den Bootssteg zu. Die Jungen nehmen die Beine in die Hand und rennen in unterschiedlichen Richtungen davon. Während sich seine Freunde aber zu Hause unter dem Küchentisch verstecken, rennt Christian ins Blücherviertel. Dort wartet er eine gefühlte Ewigkeit, bevor er sich zurücktraut. Doch der Paddler beweist viel Ausdauer und wartet noch immer auf ihn. Er verpasst Christian eine heftige Ohrfeige. Das sieht die Vermieterin und stellt den Mann zur Rede. Nachdem dieser ihr erzählt, was die Jungen angestellt haben, bekommt Christian seine zweite Ohrfeige von ihr.
Ihren Meister finden die Kinder aus der Sternstraße in einem Parkaufseher der Karlsaue. Sie verdienen sich ein bisschen Taschengeld mit dem Sammeln von Kastanien für die winterliche Tierfütterung. Hängen diese aber noch an den Bäumen, versuchen sie, mit Stöcken nachzuhelfen, dass sie herunterfallen. Dabei erwischt sie der Aufseher, denn das ist verboten. Zunächst wollen sie fortlaufen, lassen das aber lieber, als sie sehen, dass der Mann einen großen Schäferhund dabei hat. Da erscheint ihnen ein Schlag mit dem Stock auf das Hinterteil wesentlich ungefährlicher.
Wenn das Wetter schön ist, fahren Christian, Mama und Oma oftmals auf den Flugplatz nach Waldau. In einem alten Henschelbus mit einer riesigen Motorhaube fahren sie dann raus zum Flugfeld. Dort bestaunt Christian die startenden und landenden Flugzeuge. Zwar steckt die Flugzeugtechnik noch in den Kinderschuhen, aber Kassel hat einen großen Anteil an dieser Entwicklung. In der Stadt gibt es die Fieseler Werke, die den ›Fieseler Storch‹ bauen. Das ist ein Flugzeug, das man als Kurier- und Sanitätsflugzeug einsetzt. ›Storch‹ heißt es, weil es ein hochbeiniges Fahrgestell hat. Der ›Storch‹ kann ganz langsam fliegen, deshalb braucht er nur eine 50 Meter lange Startbahn. Zum Landen reichen sogar 20 Meter. Bei Gegenwind kann er in der Luft stehen oder sogar rückwärts fliegen. Die gezeigten Flugvorführungen sind natürlich sehr spannend für den kleinen Jungen.
Manchmal treffen sich die drei auch mit Tante Minna und den drei kleinen Kusinen in der Aue.
Christian mit zwei seiner Kusinen (Foto: priv.)
Dort spazieren sie dann durch den Tierpark. Besonders gern mag Christian die kleinen Affen, die sich gelenkig von Baum zu Baum schwingen. Schwierig wird es nur, wenn man in eines der Cafés einkehrt. Christian muss dann immer die schwierige Entscheidung treffen, nimmt er ein Eis oder eine Limonade. Für beides zusammen ist die Mama zu sparsam.
Besonders aufregend wird es im Frühjahr und im Herbst. Dann findet auf der Leister‘schen Wiese die Volksmesse statt. Für 20 Pfennig darf Christian Karussell fahren. Außerdem gibt es Mohrenköpfe und Zuckerstangen. Es ist doch schön, Kind zu sein.
In der Schule
Ostern 1939 kommt Christian in die Schule. Er ist jetzt sechs Jahre alt.
Einschulung (Foto: priv.)
Die Schule liegt gegenüber dem Unterneustädter Kirchplatz genau neben der ›Elwe‹, dem Kasseler Gefängnis in der Leipziger Straße 11. Und wie in einem Gefängnis kommt Christian sich auch vor, wenn er in seiner Schulbank sitzt.
Sein Klassenlehrer flößt dem Jungen sofort Respekt ein. Aufgrund seiner Körpergröße kommt er ihm wie ein Riese vor. Manchmal hilft er diesem Respekt zusätzlich mit dem Rohrstock nach. Dessen Umgang beherrscht der Lehrer bei allen möglichen Gelegenheiten perfekt. Die Lehrer dürfen nämlich mit dem Stock zuhauen, wenn die Jungen etwas anstellen.
Mit in die Klasse gehen noch 32 andere Jungen. Die Mädchen haben zu der Zeit eine eigene Schule.
Da die Freunde aus der Sternstraße, sehr zu Christians Leidwesen, andere Klassen besuchen, freundet er sich mit seinem Banknachbarn Herbert an.
Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Christian kurzsichtig ist und eine Brille tragen muss. Doch diese wandert sofort in die Hosentasche, sobald er der Sichtweite seiner Mutter entkommen ist. Als ›Brillenkasper‹ will er sich in der Schule nicht auslachen lassen.
Später bekommt die Klasse einen neuen Klassenlehrer. Dieser ist in den Augen der Jungen aber eine Niete. Er kann nicht richtig mit dem Rohrstock umgehen. Deshalb wird er auch nie zu der Respektsperson, die sein Vorgänger war.
Nachmittags leiht sich Christian oft bei seinem Freund Horst dessen Tretroller aus. Das gelingt aber nur, wenn der selbst keine Lust hat Roller zu fahren. Ansonsten übt Christian mit dem schwarz lackierten Fahrrad von Horsts Mutter das Radfahren. Seine Fahrversuche funktionieren allerdings nur auf dem Gehweg. Die Straße, die mit so genannten ›Katzenköpfen‹ gepflastert ist, führt immer wieder zu unfreiwilligen Abwürfen.
Christian und Herr Hitler
Christians Kindheit fällt zusammen mit der Ära Adolf Hitlers. In dem Jahr als er geboren wurde, übernahm Hitler fünf Tage später die Macht in Deutschland.
Christian lernt schnell, dass man an politischen Feiertagen die deutsche Fahne aus der Abstellkammer holen muss, um sie am Fenster zu hissen. Und solche Feiertage gibt es viele: Reichskriegertag, Heldengedenktag, Führers Geburtstag, Tag der Machtergreifung, Tag der Wehrmacht und so weiter.
Im Sommer 1938 kommt Adolf Hitler nach Kassel. Christian steht mit vielen anderen Menschen an der Leipziger Straße, als sich der Konvoi vom Waldauer Flugplatz in die Innenstadt bewegt. Zusammen mit seiner Mutter folgt er dem Zug auf den Friedrichsplatz. Dort sind große Tribünen aufgebaut. Die ganze Stadt hat die Flaggen aufgehängt und die Bevölkerung bereitet Hitler einen begeisterten Empfang. Der Triumphzug des Machthabers endet auf der Karlswiese vor der Orangerie. Dort hält Hitler eine flammende Rede an sein Volk. Christian ist schwer beeindruckt, von den markigen Worten und ausladenden Gesten, die den Führer kennzeichnen. Noch weiß er ja nicht, was in den folgenden Jahren auf ihn und die deutsche Bevölkerung zukommen wird.
1939 findet der Reichskriegertag in Kassel statt. Christian ist sechs Jahre alt und will unbedingt den groß angekündigten Fackelzug sehen. Weil der beste Effekt sich dabei natürlich erst in der Dunkelheit einstellt, lässt sich seine Mutter überreden, mit ihm dort hinzugehen. Er findet es toll, wie die SA- und SS-Formationen, das sind die Schutztruppen, zu deren Aufgaben der Schutz von Hitler gehört, mit ihren Fackeln und den Musikkapellen zum Marställer Platz marschieren.
In seiner Familie ist Politik ein Thema, über das man nur hinter vorgehaltener Hand spricht. Der Teil der mütterlichen Verwandtschaft bevorzugt eigentlich den Kommunismus, in dem alle das Gleiche besitzen sollen. Die Kommunisten gelten als Feinde von Hitler und werden verfolgt. Die