Die Chroniken von 4 City - Band 1. Manuel Neff
Du bist wundervoll, so wie du bist. Ich meine die Schrottsammler. Eines Tages werden sie das Sonnenlicht zu schätzen wissen. Sie werden etwas Höheres anstreben, als nur ein Zweibeiner zu sein, der isst, kackt, und für eine gewisse Zeit einen Platz in 4-City einnimmt. Sie werden ihre Kinder liebevoll aufziehen und auf Schulen schicken, auf denen sie Lesen und Schreiben lernen, anstatt sie in der Gosse im Dreck wühlen zu lassen.«
Lea legt ihre mokkafarbene Hand auf das Knie der Prinzessin.
»So werden die Kleinen aber schneller erwachsen. Die Gosse tut ihnen gut.«
»Du hörst dich an wie mein Vater. Was soll daran gut sein, wenn nur jeder dritte Säugling überlebt?«
»Du übertreibst.«
»Tue ich das wirklich?«
»Dir geht es doch gut, was kümmerst du dich so viel um die anderen? Es ist doch viel einfacher, sich nur um sich selbst zu kümmern«, sagt Lea nachdenklich.
»Nichts, für was es sich zu kämpfen lohnt, ist einfach. Und außerdem ist es mein Volk.«
»Das Volk deines Vaters.«
Love schaut ihre Freundin an. Sie hat es nicht begriffen. Sie weiß nicht, wonach sich das Herz einer Prinzessin sehnt. Hat nicht die Spur einer Ahnung, was Mitgefühl bedeutet. Lea ist keine typische Schrottsammlerin. Sie ist zumindest ein bisschen aufgeweckter als die meisten anderen, aber die Erziehung hat sie dennoch unverkennbar geprägt. Wer will es ihr verdenken? Es ist klar, dass Lea ihr folgen wird, dass Love in ihrer Beziehung den Ton angibt und Lea einfach nur versuchen muss, nicht gänzlich zu versagen.
»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Love. »Ich will dir etwas zeigen.« Sie fasst neben sich, hält sich an Leas Schulter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie greift sich die bunt eingefärbte Stofftasche, die sie bis zu diesem Moment rückseitig eines kniehohen Mauervorsprungs versteckt hatte.
»Du hast die Tasche noch«, quietscht Lea verzückt.
»Klar, was denkst du denn? Es sind die schönsten Farben der Welt.«
»Schmeichlerin. Das sind sie bestimmt nicht. Wenigstens habe ich mir einiges an Mühe damit gegeben, alle Stoffberge von ganz 4-City nach ihnen zu durchsuchen.«
»Du hast die Grenze des Clans doch noch nie verlassen.«
»Aber ich hätte es fast getan. Für dich.«
Love muss über so viel Süßholzraspeln lachen.
»Die Tasche ist wunderschön, weil du sie gemacht hast«, säuselt Love nun und streichelt Lea über ihr sanftmütiges Gesicht.
»Wenn du es sagst. Und was ist da drin? Was ist da eingepackt? Picknick?«, fragt Lea ungeduldig.
»Etwas noch Besseres.« Love holt einen schlichten Apparat aus dem Stoffbeutel. Er ist aus Metall, Kunststoff und Holz und in diesem Moment reißt wie ein Zeichen des Himmels die Wolkennebelwand auf und das rötliche Licht der untergehenden Sonne wird auf der, sich spiegelnden Linse des Geräts, reflektiert.
Ein seltenes Naturschauspiel, das die beiden Mädchen zum Schweigen bringt und verträumt hoch zum Firmament blicken lässt.
»Wow. Das ist so göttlich«, sagt Lea.
»Und doch ist es nicht halb so umwerfend wie du, meine süße Maus«, raunt Love. Lea kuschelt sich an die Prinzessin.
»Und was ist es? Was hast du dieses Mal erfunden?«, flüstert sie an Loves Schulter.
»Geduld. Lass dich überraschen!« Love zieht Lea noch ein Stückchen näher an sich heran und legt den linken Arm um sie. Mit dem rechten hält sie den Apparat von sich weg und dreht ihn so, dass die Linse ihnen zugewandt ist. Noch immer fällt das Licht auf ihre hübschen Gesichter und dann drückt Love ab. Das kleine Gerät gibt ein klickendes Geräusch von sich.
»Es ist ein Fotoapparat«, jauchzt Lea voller Erkenntnis. »So klein? Darf ich das Bild sehen.«
»Selbstverständlich. Sobald ich eine Dunkelkammer eingerichtet und alles beisammen habe, um die Abzüge zu entwickeln. Ich sagte doch, du musst dich gedulden.«
Lea staunt Bauklötze.
»Ich verstehe das nicht. Dunkelkammer? Entwickeln?«
»Ich erkläre es dir dann, sobald ich soweit bin. Bis dahin gibt es keinen anderen Weg, als zu warten. Du bist doch ausdauernd, was das Abwarten angeht?«
»Natürlich bin ich das. Logisch. Eine Engelsgeduld zu haben, ist eine meiner Tugenden«, verkündet Lea. Die Mädchen blicken zeitgleich nach unten auf Leas wild zappelnde Füße, die sie jedes Mal verraten. Sie lachen.
Love verrät Lea nicht, dass sie noch nicht die geringste Ahnung hat, wie so eine Dunkelkammer überhaupt beschaffen ist und wie der Entwicklungsprozess abläuft, jedoch ist sie sich sicher, dass es so kommt wie immer. Wenn sie sich felsenfest etwas vornimmt, dann wird es auch gelingen. Alles, was sie dazu benötigt sind mehr Informationen.
»Ein Buch über Fotografie wäre gut. Dein Vater könnte dir eins mitbringen«, meint Lea.
»Vielleicht von seinem aktuellen Feldzug.«
Loves Talent
Lea und Love begeben sich zur Werkstatt. Dem Tresorraum der Bank, aus der Alten Welt, die sich ihr Vater als Sitz seiner Residenz auserkoren hat. Früher, vor Jahrhunderten, lagerten hier einmal Gold, kostbare Edelsteine, exklusiver Schmuck und Wertpapiere. Aus heutiger Sicht nutzlos. Es gibt keine Währung und niemand würde Essen für Gold eintauschen.
Den Namen Werkstatt hat Love ausgesucht. Es ist ihr zweiter Lieblingsort. Hier kann sie sich verwirklichen. Ihrem Talent freien Lauf lassen. Hier kann sie Stunden oder ganze Tage verbringen mit Basteln, Werkeln und Arbeiten. Mit Ingenieurskunst. Doch obwohl sie hier mit Sicherheit die meiste Zeit in der Sektion der Schrottsammler verbringt, landet er auf dem zweiten Platz ihrer Rangliste der liebsten Orte. Platz eins belegt eindeutig die Dachterrasse, auf der sie entweder mit Lea schmust, ihre neuen Erfindungen, fern von neugierigen Augen, ausprobiert oder beides gleichzeitig tut.
»Du bist ein Phänomen«, sagt Lea stolz, beeindruckt und an ihren eigenen Möglichkeiten zweifelnd. »Wie machst du das nur?« Lea schaut Love dabei zu, wie sie den Fotoapparat in seine Einzelteile zerlegt.
»Ah, das muss es sein«, meint Love und hält ein kleines undefinierbares Teil in die Höhe. »Das muss ich austauschen und er funktioniert wieder.«
»Und wo bekommst du so etwas her?«
»Na hör mal, ich bin eine Schrottsammlerin. Ich bastle es mir aus Gerümpel selbst zusammen.«
»Aus Schrott?«
»Natürlich, davon gibt es mehr als genug.«
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!«
»Doch, das habe ich schon mindestens hundertmal getan.«
»Du liest ein Buch und kannst es?«
»Genau«, antwortet Love.
»Das ist doch keine Erklärung.«
»Aber eine Antwort.«
»Ist es nicht! Niemand liest etwas und kann es danach einfach tun.«
»Vielleicht liegt es daran, dass die meisten gar nicht lesen können.«
Lea lässt betrübt den Kopf nach unten sinken. Sie kann auch nicht lesen, so wie es Love gesagt hat.
»Steck den Kopf nicht in den Sand, ich bringe es dir bei. Das habe ich dir versprochen.«
»Ja ich weiß, aber ich bezweifle trotzdem, dass ich ein Buch übers Fliegen lese und danach fliegen kann.«
»Aber das geht bei mir doch auch nicht. Man muss mit seinen Erwartungen immer schön auf dem Boden der Möglichkeiten bleiben und die Gesetze der Physik respektieren. Menschen haben nun