Das Geheimnis von Cloomber Hall. Arthur Conan Doyle
einmal über Branksome hinaus war, der weiße Turm von Cloomber-Hall, der wie der Gedenkstein eines Hünengrabes über die ihn umgebenden Fichten und Lärchen emporragte.
Ein reicher Sonderling aus Glasgow, ein Menschenfeind, hatte sich dieses große Haus gebaut, aber zur Zeit unserer Ankunft hatte es schon lange, lange Jahre leer gestanden, und es schaute mit seinen wetterzerrütteten Mauern und leeren, dunklen Fenstern gar geisterhaft über die Böschung des Ufers hinaus. Leer und unbenutzt, diente es jetzt nur noch den Fischern als ein Wahrzeichen, da diese durch Erfahrung gelernt hatten, daß sie leicht ihren Weg durch die gefährlichen Felsenbänke, auf deren zackigen Rücken schon manch gutes Schiff zerschellt war, finden konnten, wenn sie den Schornstein unseres Hauses und den weißen Turm von Cloomber in einer Linie behielten.
Auf diesen wilden Fleck Erde hatte uns das Schicksal verschlagen; aber seine Einsamkeit hatte keine Schrecken für uns. Im Gegenteil, nach der entnervenden fieberischen Tätigkeit und Unruhe in einer großen Stadt und besonders der schwierigen Aufgabe, mit unserem kleinen Einkommen eine unser würdige Stellung zu behaupten, war uns die besänftigende, großartige Ruhe auf den unabsehbaren Heiden und die kräftige, stählende Seeluft höchst willkommen. Wir waren hier wenigstens von der lästigen Neugier und dem Geschwätz der Nachbarn befreit. Mit einem Phaethon und zwei Ponys, die der Gutsherr zurückgelassen hatte, machten mein Vater und ich unsere tägliche Runde auf dem Gute und verrichteten die vielerlei kleinen Geschäfte, die einem Verwalter zufallen. Unsere sanfte Esther besorgte den Haushalt und erhellte das düstere, alte Haus mit dem Sonnenschein ihrer arg- und sorglosen Jugend.
So verging die Zeit ruhig und einförmig, bis ein unerwartetes Ereignis sich zutrug, das die geheimnisvollen Vorgänge, den Kernpunkt meiner Erzählung, gleichsam vorauskündete. Es war meine Gewohnheit geworden, allabendlich in des Gutsherrn kleiner Jolle auf das ruhige Meer hinauszurudern und ein paar Weißfische für unser bescheidenes Nachtmahl zu fangen. Eines Abends war meine Schwester mit hinausgefahren und saß mit ihrem Buche im Stern der Jolle, während ich vorn meine Angel ausgeworfen hatte.
Die Sonne war hinter der schroffen irischen Küste versunken, aber noch bezeichnete eine goldüberflutete Masse von Wolken ihre Schlummerstatt. Die Wasser waren, so weit der Blick reichte, von feurigen Purpurstreifen umsäumt, und entzückt war ich aufgestanden, um das großartige, so alte und doch so ewig neue Panorama wieder zu bewundern. Da zupfte mich meine Schwester mit einem Ausruf ängstlicher Überraschung am Ärmel.
»Sieh doch nur, John,« rief sie, »da ist ja ein Licht im Turm von Cloomber-Hall!«
Ich wandte mich hastig um und schaute ganz überrascht nach dem weißen Turm, der hoch über die ihn umgürtenden Bäume hinausragte. Als ich hinsah, konnte ich hinter einem der Fenster einen Lichtschein wahrnehmen, welcher plötzlich wieder verschwand, um nach kurzer Zeit in einem höheren Stockwerke aufs neue sichtbar zu werden. Dort flackerte er eine Zeitlang, verschwand wieder und erschien dann nacheinander in den beiden unteren Etagen, bis die Bäume ihn unseren Blicken verbargen. Augenscheinlich hatte jemand mit einer Lampe oder Kerze die Turmtreppe erstiegen und war dann wieder in das eigentliche Haus zurückgekehrt.
»Wer in aller Welt kann das nur sein?« rief ich aus, mehr im Selbstgespräch als zu Esther. Konnte ich doch an ihrem verdutzten Gesicht sehen, daß ihr die Sache ebenso rätselhaft vorkam wie mir. »Vielleicht haben sich ein paar Leute aus Branksome den alten Kasten einmal ansehen wollen!«
Meine Schwester schüttelte den Kopf.
»Keiner von ihnen würde sich dem Gebäude auch nur auf zwanzig Schritt zu nähern wagen!« sagte sie. »Außerdem, John, hat der Agent in Wigtown die Schlüssel, so daß unsere Leute, wären sie auch noch so neugierig, nicht hineingelangen könnten.«
Als ich an das schwere Tor dachte und an die massiven Fensterladen, die das untere Stockwerk von Cloomber gegen neugierige Eindringlinge verwahrten, konnte ich nicht umhin, die Richtigkeit dieser Bemerkung anzuerkennen. Der Eindringling mußte also entweder seinen Eingang gewalttätig bewerkstelligt, oder sich irgendwie die Schlüssel verschafft haben. Das Geheimnisvolle der Sache reizte mich, und ich ruderte so schnell wie möglich dem Lande zu, um den nächtlichen Gast selbst zu sehen und mich – wenn möglich – über seine Absichten zu orientieren.
Meine Schwester in Branksome zurücklassend, rief ich einen alten Seemann, namens Seth Jameson, der früher auf einem Kriegsschiffe gedient hatte und vielleicht einer der stärksten Männer im Dorfe war, zu mir und ging mit ihm über das Moor hinüber dem Schlosse zu.
Als wir uns dem letzteren näherten und ich Seth meine Absicht mitteilte, wurden seine Schritte ständig kleiner, bis er schließlich ganz haltmachte.
»Mit dem Hause da ist's nicht recht geheuer,« sagte er wichtig. »Der Eigentümer selbst wagt sich bis auf 'ne gute Meile nicht heran.«
»Mag sein, Seth, aber dort ist jemand, der sich nicht vor Geistern zu fürchten scheint,« erwiderte ich, nach dem großen, weißen Gebäude deutend, das eben durch den Nebel sichtbar ward.
Das Licht, das ich vom Meere her beobachtet hatte, bewegte sich hin und her vor den unteren Fenstern, deren Läden geöffnet waren. Ein zweites schwächeres Licht folgte dem anderen ein paar Schritte entfernt. Augenscheinlich hielten zwei Personen, eine mit einer Laterne, die andere mit einer Kerze oder einem Sturmlicht, sorgfältige Rundschau im Hause.
»Was mich nicht brennt, das blas ich nicht,« meinte Jameson hartnäckig, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Was geht's mich an, wenn sich irgendein Spuk oder Alp in Cloomber einnisten will? Damit ist nicht gut Kirschen essen!«
»Aber zum Henker!« rief ich. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ein Spuk hier in einer Kutsche vorfahren wird? Was sind denn das für Lichter dort am Ende der Allee?«
»Wagenlampen, ohne Zweifel!« erwiderte mein Begleiter erleichtert aufatmend. »Wollen doch mal sehen, woher sie kommen!«
Es war jetzt völlig dunkel geworden, und nur ein leuchtender Streifen tief im Westen war von dem feurigen Schauspiel, das ich vor einer Stunde bewundert hatte, übriggeblieben.
Wir stolperten schwerfällig über das Moor und gelangten schließlich auf die nach Wigtown führende Landstraße, da, wo zwei hohe Steinsäulen den Anfang der Schloßallee bezeichneten. Ein großer Jagdwagen stand vor dem Eingang.
»Jetzt weiß ich schon Bescheid!« rief Jameson, das verlassene Gefährt genau betrachtend. »Das Gespann kenne ich gut. Es gehört Herrn Mc. Neil, dem Verwalter aus Wigtown, der die Schlüssel hat.«
»Dann können wir ihn am Ende auch sogleich sprechen, da wir doch nun einmal hier sind. Wenn ich mich nicht irre, kommen sie eben.«
Während ich die letzten Worte sprach, hörten wir eine Tür schwerfällig zuschlagen, und nach einigen Minuten kamen zwei Männer, der eine eckig und lang, der andere kurz und gedrungen, durch die Dunkelheit auf uns zu. In eifrigem Gespräch begriffen, sahen sie uns nicht, bis sie den Torweg passierten.
»Guten Abend, Herr Mc. Neil,« sagte ich, vortretend und den Verwalter, den ich oberflächlich kannte, begrüßend.
Der kleine Mann kehrte mir sein Gesicht zu, und ich sah, daß ich mich nicht getäuscht hatte; sein Begleiter jedoch fuhr hastig zurück und verriet die heftigste Erregung.
»Was soll das heißen, Mc. Neil?« würgte er mit erstickter Stimme heraus. »Ist das Ihr Versprechen? Was bedeutet dies?«
»Ruhig Blut, Herr General, nur ruhig Blut!« antwortete der fette, kleine Agent beschwichtigend, als ob er zu einem Kinde spräche. »Dies ist nur der junge Herr Fothergill West aus Branksome. Es ist mir freilich nicht recht klar, weshalb er gerade heute abend hier ist. Da Sie aber sowieso Nachbarn sein werden, lassen Sie mich die Gelegenheit benutzen, Sie gleich miteinander bekannt zu machen: Herr West – Herr General Heatherstone. Der Herr General ist der zukünftige Pächter von Cloomber-Hall.«
Ich hielt dem General meine Hand hin, die er zögernd, halb widerstrebend, ergriff.
»Ich kam herüber,« erklärte ich, »weil ich Licht hinter den Fenstern scheinen sah und fürchtete, daß am Ende hier etwas nicht in Ordnung sei. Ich freue mich jetzt, es getan zu haben, da es mir Gelegenheit