Lourdes. Emile Zola

Lourdes - Emile Zola


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Menschen vergaßen sich der junge Priester und seine beiden Gefährten, von den Gewohnheiten ihres gebildeten Geistes fortgerissen. Eine Stunde verrann, zwei weitere Choräle waren noch gesungen worden, und man hatte die Stationen Toury und Les Aubrais schon passiert, da brachen sie endlich in Beaugency ihre Unterhaltung ab, als sie die Schwester Hyacinthe mit ihrer frischen und klangvollen Stimme das Kirchenlied anheben hörten:

      »Parce, Domine, parce populo tuo...«

      Das Singen begann von neuem, alle Stimmen vereinigten sich, und wiederum stieg jene Flut von Bitten und Gebeten empor, die den Schmerz erstickt, die Hoffnung neu belebt, und den ganzen Menschen, der von der unablässigen Beschäftigung mit der in so weiter Ferne zu suchenden Gnade und Heilung übermüdet ist, von neuem erweckt und ermuntert.

      Als sich Pierre wieder niedersetzte, sah er, daß Marie sehr bleich aussah und die Augen geschlossen hatte. Doch bemerkte er deutlich an ihrem schmerzlich verzogenen Gesicht, daß sie nicht schlief.

      »Haben Sie jetzt ärgere Schmerzen?«

      »O ja, fürchterliche! Ich werde das Ziel nicht erreichen. Diese fortwährenden Stöße sind...«

      Sie stöhnte, öffnete die Augen und fuhr fort, von ihrem Lager aus trotz ihrer zunehmenden Schwäche die übrigen Kranken zu beobachten. In der Abteilung nebenan hatte sich gegenüber von Herrn Sabathier die Grivotte erhoben, die bis dahin wie eine Tote, ohne einen Atemzug zu tun, dagelegen hatte. Sie war ein großes Mädchen, das die Dreißig schon überschritten hatte, lahm und wunderlich, mit einem runden, schmerzentstellten Gesicht, das aber ihre krausen Haare und ihre Flammenaugen fast schön machten. Sie war in höchstem Grade schwindsüchtig.

      »Nun, Fräulein«, sagte sie mit ihrer heiseren, kaum verständlichen Stimme, sich an Marie wendend, »wie glücklich würde man sein, wenn man ein kleines bißchen einschlafen könnte. Aber daran ist gar nicht zu denken, diese Räder drehen sich einem ja im Kopfe herum.«

      Und trotz der Ermattung, die deutlich beim Sprechen zum Ausbruch kam, ließ sie sich nicht abhalten, Näheres von ihrem Leben zu erzählen.

      Sie war Matratzenmacherin und hatte lange Zeit, mit einer ihrer Tanten in Bercy, von Hof zu Hof ziehend, Matratzen gemacht. Die verpestete Wolle, die sie selbst kämmte, hatte ihr in der Jugend ihr Leiden verschafft. Seit fünf Jahren machte sie die Runde in allen Spitälern von Paris. Sie sprach von den großen Ärzten in ganz vertrautem Tone. Die Schwestern von Lariboisière hatten sie, als sie sie von den religiösen Zeremonien leidenschaftlich erregt gesehen hatten, vollends bekehrt und überzeugt, daß die Heilige Jungfrau in Lourdes nur auf sie warte, um sie zu heilen.

      »Sie sagten mir, der eine Lungenflügel sei bei mir ganz verloren und der andere nicht viel mehr wert. Wissen Sie, es hatten sich Kavernen gebildet... Zuerst hatte ich nur zwischen den Schultern Schmerzen und beim Husten einen schaumigen Auswurf. Dann magerte ich ab. Es war ein wahrer Jammer. Jetzt bin ich immer von Schweiß gebadet und huste, als wollte es mir die Brust zersprengen. Ich kann aber trotzdem nichts mehr aushusten, so dick ist es... Und wie Sie sehen, kann ich mich gar nicht mehr aufrecht halten, ich esse nicht mehr...«

      Ein Erstickungsanfall unterbrach sie, ihr Gesicht wurde ganz schwarzblau.

      »Das macht nichts. Ich stecke aber doch noch lieber in meiner Haut als in der des Bruders dort in der Abteilung hinter Ihnen. Er hat dasselbe Leiden, aber er ist noch viel schlimmer daran als ich.«

      Sie täuschte sich. Es befand sich allerdings in der Abteilung hinter Marie ein junger Missionar, der Bruder Isidor, der auf einer Matratze lag und den man nicht sehen konnte, da er nicht imstande war, sich einen Finger breit emporzurichten. Aber er war nicht schwindsüchtig, er lag hoffnungslos danieder an einer Leberentzündung, die er sich am Senegal geholt hatte. Er war sehr groß und mager und hatte ein gelbes, eingefallenes Gesicht wie von Pergament. Das Geschwür, das sich an der Leber gebildet hatte, war schließlich nach außen durchgebrochen, und die Eiterung, verbunden mit fortwährendem heftigen Fieber, Erbrechen und Phantasieren, raubte ihm alle Kräfte. Nur allein seine Augen lebten noch, Augen voll unendlicher Liebe, deren warmer Strahl sein Gesicht, das dem sterbenden Heiland glich, verklärte. Sonst war es ein gewöhnliches Bauerngesicht, das nur der Glaube und die Leidenschaft adelten. Er war ein Bretone, das jüngste, kränkliche Kind einer sehr zahlreichen Familie, und hatte den geringen Landbesitz in der Heimat seinen älteren Brüdern überlassen. Eine seiner Schwestern begleitete ihn, Martha, zwei Jahre älter als er, die nach Paris gekommen war, um in seinen Dienst zu treten. Sehr bescheiden in ihrer untergeordneten Stellung als Mädchen für alles, hatte sie ihren Platz verlassen, um ihm zu folgen, und verzehrte nun ihre mageren Ersparnisse.

      »Ich stand gerade auf dem Perron, als man ihn in den Wagen hob; vier Männer hielten...«

      Sie konnte aber nicht weitersprechen; sie bekam einen Hustenanfall, der sie zwang, sich wieder auf die Bank niederzulegen. Sie rang mühsam nach Atem, die roten Äpfelchen auf ihren Backen wurden ganz blau. Sofort richtete ihr Schwester Hyacinthe den Kopf in die Höhe, trocknete ihre Lippen mit einem Leinentuche, das rote Flecken bekam. Frau von Jonquière war in demselben Augenblicke um die Kranke beschäftigt, die ihr gegenüber saß und ohnmächtig geworden war. Sie hieß Frau Vêtu, war die Frau eines kleinen Uhrmachers, der seinen Laden nicht hatte schließen können, um sie nach Lourdes zu begleiten. Sie hatte sich daher in die Hospitalität aufnehmen lassen, um die nötige Pflege zu haben. Die Furcht vor dem Tode hatte sie zur Kirche zurückgeführt, in die sie seit ihrer ersten Kommunion die Füße nicht mehr gesetzt hatte. Sie wußte, daß sie dem Tode unrettbar verfallen war, da der Krebs ihren Magen zerfraß. Schon hatte sie das zitronengelbe, entstellte Aussehen der Krebskranken. Ihr Auswurf war ganz schwarz, als ob sie Kienruß von sich gegeben hätte. Auf der ganzen Reise hatte sie noch kein einziges Wort gesprochen, ihre Lippen waren fest geschlossen, sie litt entsetzlich. Dann war Erbrechen eingetreten, und sie hatte das Bewußtsein verloren. Sobald sie den Mund öffnete, hauchte sie einen entsetzlich stinkenden Atem aus, einen Pestgeruch, der den Magen zum Umwenden brachte.

      »Das kann man unmöglich aushalten«, murmelte Frau von Jonquière, die sich einer Ohnmacht nahe fühlte, »es muß etwas Luft gemacht werden.«

      Schwester Hyacinthe war gerade damit fertig geworden, die Grivotte auf ihre Kissen zu betten.

      »Gewiß, öffnen wir ein paar Minuten das Fenster. Aber nicht auf dieser Seite hier, denn ich habe Angst vor einem neuen Hustenanfall... Öffnen Sie es auf Ihrer Seite.«

      Die Hitze wurde immer ärger. Man erstickte fast in der dicken, ekelhaften Atmosphäre. Es war eine wirkliche Erleichterung, als frische Luft hereinkam. Einige Minuten gab es jetzt andere Geschäfte zu besorgen, und eine allgemeine Reinigung fand statt. Die Schwester wusch alle Geschirre und Becken, deren Inhalt sie zum Fenster hinausschüttete, während die zur Hilfe beigegebene Dame mit einem Schwamme den Fußboden auftrocknete. Dann gab es ein neues Geschäft: die vierte Kranke, die sich bisher noch nicht gerührt hatte, ein zartes Mädchen, dessen Gesicht ganz von einem schwarzen Tuche verhüllt war, sagte, sie hätte Hunger.

      Frau von Jonquière erbot sich gleich in ihrer ruhigen, ergebenen Weise, für sie sorgen zu wollen.

      »Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern, liebe Schwester. Ich werde ihr das Brot in kleine Stücke schneiden.«

      Marie hatte sich in ihrem Verlangen nach Zerstreuung für die regungslose Gestalt, die sich unter dem schwarzen Tuche versteckt hatte, lebhaft interessiert. Sie vermutete, daß sie irgendeinen Schaden im Gesicht hätte. Man hatte ihr gesagt, es wäre eine Erzieherin. Die Unglückliche, Elise Rouquet aus der Picardie, hatte ihre Stelle verlassen müssen und lebte in Paris bei einer Schwester, die sie schlecht behandelte. Da sie aber kein anderes Leiden hatte, hatte sie kein Hospital aufnehmen wollen. Bei ihrer großen Frömmigkeit war es schon seit Monaten ihr heißer Wunsch, nach Lourdes zu gehen. Marie wartete mit stummer Besorgnis, ob sich wohl das schwarze Tuch heben würde.

      »Sind die Stücke so klein genug?« fragte Frau von Jonquière in mütterlichem Tone. »Können Sie sie selbst in den Mund stecken?«

      Unter dem schwarzen Tuche krächzte eine heisere Stimme nur halb verständliche Worte.

      »Ja, ja, gnädige Frau.«

      Endlich


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