Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann
Stirn. »Auf dem Weg des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit zum Guten verkümmern.«
»Zweifeln und Leugnen ist es wohl kaum,« versetzte Daumer unwillig. »Gott ist kein Bewohner des Himmels, er haust nur in unsrer Brust. Der reiche Geist birgt ihn im umfassenden Gefühl, der arme wird durch die Not des Lebens seiner gewahr und nennt es Glauben; er könnte es auch Angst nennen. In Schönheit und Freude gestaltet sich der wahre Gott, im Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, ist das aufrichtige Zagen der ihrer selbst noch ungewissen Seele. Man gebe der Pflanze so viel Sonne, wie sie braucht, und sie besitzt einen Gott.«
»Das ist Philosophie,« erwiderte Binder, »und zudem Philosophie, die einem Alltagsmenschen wie mir frivol klingen muß. Jeder Bauer hat für seine Ernte mit Sturm und Unwetter zu rechnen, und nur ein überheblicher Mensch kann sich einfallen lassen, von selber etwas zu gelten. Doch genug davon. Waren Sie eigentlich mit Caspar schon einmal in der Kirche?«
»Nein, ich habe das bis jetzt vermieden.«
»Morgen ist Sonntag. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich ihn zum Gottesdienst in die Frauenkirche mitnehme?«
»Nicht im geringsten.«
»Gut, ich werde ihn um neun Uhr abholen.«
Wenn sich Herr Binder eine sonderliche Wirkung von diesem Versuch versprochen hatte, so wurde er darin sehr enttäuscht. Als Caspar die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme des Predigers vernahm, fragte er, warum der Mann schimpfe. Die Kruzifixe erregten seinen tiefsten Schauder, weil er die angenagelten Christusbilder für gemarterte lebendige Menschen hielt. Beständig schaute er, beständig verwunderte er sich, das Spiel der Orgel und der Gesang des Chors betäubten sein empfindliches Ohr dermaßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht spürte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünstung der Menschenmenge einer Ohnmacht nahe.
Der Bürgermeister sah wohl seinen Fehlgriff ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen Besuch der Kirche zu dringen, obwohl sich Caspar jedesmal hartnäckig dagegen sträubte. Wenn der Kandidat Regulein Herrn Binder seine Not klagte, erwiderte dieser: »Nur Geduld, die Gewohnheit wird ihn schon zur Andacht nötigen.« – »Ich glaube nicht,« versetzte der Kandidat darauf mutlos, »gebärdet er sich doch, als ob er sein Leben lassen sollte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere.« – »Macht nichts, es ist Ihr Beruf, seinen Widerstand zu brechen,« lautete der Bescheid.
Der gute, hilflose Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung gewesen war und dessen Gottesgelehrtentum von so dünner Beschaffenheit war wie seine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtsstunden, die er Caspar erteilen mußte, und sooft ihn eine Frage in Verlegenheit setzte, was gar nicht selten geschah, verschob er die Auskunft auf das nächste Mal, wobei er sich vornahm, in gewissen Büchern nachzuschlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Caspar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde kam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im stillen hoffte, sein Schüler habe vergessen, erschrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verschanzung in die andre, bis das verzweifelte Argument aufgestellt werden mußte, es sei unrecht, über dunkle Gegenstände des Glaubens zu forschen.
Caspar lief zu Daumer und beklagte sich bitter, daß er keine Aufschlüsse erhalte. Daumer fragte, was er zu wissen begehrt habe. Er hatte zu wissen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menschen herabkomme, um sie über so vieles, was verborgen sei, zu belehren. »Ja sieh mal, Caspar,« sagte Daumer, »es gibt Geheimnisse in der Welt, die sich eben beim besten Willen nicht verstehen lassen. Da muß man Vertrauen haben, daß Gott eines Tages unser Herz darüber erleuchtet. Wir alle wissen ja auch nicht, woher du kommst und wer du bist, und trotzdem hoffen wir von der Gerechtigkeit und Allwissenheit Gottes, daß er uns eines Tages darüber Aufschluß gewährt.«
»Aber Gott hat doch nichts damit zu tun, daß ich im Kerker war,« erwiderte Caspar sanft, »das haben doch die Menschen getan.« Und ratlos setzte er hinzu: »So ist’s eben. Das eine Mal sagt der Kandidat, Gott lasse den Menschen ihren freien Willen, das andre Mal sagt er, Gott strafe sie für ihre bösen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.«
Diese Unterhaltung fand an einem stürmischen Nachmittag Ende März statt und Daumer geriet durch sie in eine so trübe Stimmung, daß er eine angefangene schriftliche Arbeit nicht zu beendigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stücken, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes Heft zur Hand, das seine Aufzeichnungen über Caspar enthielt, und blätterte drin herum. Er schrak zusammen, als seine Schwester ziemlich hastig eintrat, noch mit Pelzkappe und Umhang, wie sie von der Straße kam. Ihr Gesicht verriet Aufregung, und sie wandte sich mit der schnell hervorgestoßenen Frage an Daumer: »Weißt du schon, was man in der Stadt spricht?«
»Nun?«
»Man erzählt sich, Caspar Hauser sei von fürstlicher Abkunft, ein beiseitegeschaffter Prinz.«
Daumer lachte gezwungen. »Das fehlte noch,« entgegnete er abschätzig. »Was denn noch alles!«
»Du glaubst nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen solche Gerüchte stammen? Irgend etwas muß doch dahinter sein.«
»Gar nichts muß dahinter sein. Sie schwatzen eben. Laß sie schwatzen.«
Eine halbe Stunde später erhielt Daumer den Besuch des Archivdirektors Wurm aus Ansbach. Es war dies ein kleiner, etwas verwachsener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er sehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Regierungspräsidenten Mieg sei. Von ersterem bestellte er Grüße an Daumer und sagte, der Staatsrat werde in allernächster Zeit nach Nürnberg kommen, er beschäftige sich angelegentlich mit der Sache Caspar Hausers.
Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden griff der Archivdirektor plötzlich in die Rocktasche, brachte ein kleines broschiertes Buch zum Vorschein und reichte es wortlos Daumer. Dieser nahm es und las den Titel: »Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.«
Daumer besah das Büchlein mit feindseligen Augen und sagte matt: »Das ist deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?«
»Es ist ein gehässiges Pamphlet, tritt aber höchst plausibel auf,« erwiderte der Archivdirektor. »Es sind da mit Fleiß und Geschick alle Verdachtsgründe, die schon längst in mißtrauischen Gemütern spuken, gegen den Findling zusammengetragen. Der Verfasser prüft alle Angaben Caspars auf ihre Verdächtigkeit hin, auch gibt er Beispiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche Lügenkünste, wie er sich ausdrückt, zu verspäteter Enthüllung gelangt sind. Sie, lieber Professor, und Ihre hiesigen Freunde kommen dabei nicht zum besten weg.«
»Natürlich; kann ich mir denken,« murmelte Daumer, und mit der flachen Hand auf das Buch schlagend, rief er aus: »Nicht unwahrscheinlich ein Betrüger! Da sitzt so ein mit allen Hunden gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt es –! Himmelschreiend! Man sollte ihm diesen nicht unwahrscheinlichen Betrüger vorführen, man sollte ihn zwingen, dem Engelsblick standzuhalten, ach, schändlich! Der einzige Trost dabei ist, daß doch niemand das Zeug lesen wird.«
»Sie irren sich,« versetzte der Archivdirektor ruhig, »das Heft findet reißenden Absatz.«
»Nun gut, ich werde es lesen,« sagte Daumer, »ich werde damit zum Redaktor Pfisterle von der ›Morgenpost‹ gehen, der ist der richtige Mann, um dem famosen Polizeirat Widerpart zu halten.«
Der Archivdirektor maß den aufgeregten Daumer mit einem gleichgültig-schnellen Blick. »Ich möchte eine solche Maßregel nicht ohne weiters gutheißen,« bemerkte er diplomatisch; »ich glaube auch im Sinn des Herrn von Feuerbach zu sprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu das Zeitungsgeschreibe? Was soll es nützen? Man muß handeln, in aller Vorsicht und Stille handeln, das ist es.«
»In aller Vorsicht und Stille? Was wollen Sie damit sagen?« fragte Daumer ängstlich und argwöhnisch.
Der Archivdirektor zuckte die Achseln und schaute zu Boden. Dann erhob er sich, sagte, er wolle am folgenden Nachmittag wiederkommen, um Caspar zu sehen, und reichte Daumer die Hand. Als er schon auf der Treppe war, eilte ihm Daumer nach und fragte,