Wanderer. Erik Schreiber
können.
Ben lehnte sich ruhig in dem Stuhl zurück und betrachtete die Personen um sich herum. Peer, der Kommandant der CHARON, der immer ein Pokerface trug und den nichts aus der Ruhe zu bringen schien, und wenn doch, zeigte er es nicht. Er wirkte wie üblich als Herr der Lage. Leutnant Björn Hartmann starrte konzentriert auf den Holoschirm, so als ob er sich keine einzige Kleinigkeit entgehen lassen wollte. Rudolf, der immer gute Laune verbreitete und den Optimisten der Besatzung darstellte. Hauptmann Kurt Jessan, der Sicherheitsoffizier, dessen Zuverlässigkeit sprichwörtlich war, ein ruhender Pol in der CHARON, immer besonnen und korrekt.
„Erwartest du, dort - wie du das Objekt auch nennen willst - Leben anzutreffen?“, fragte ihn Hegen.
„Nicht in diesem Sinn“, sagte Ben zögernd.
Dr. Schmird und Petra Müller, die Armierungsoffizierin, nickten bestätigend fast synchron.
Hegen war von der Antwort enttäuscht. „Das sagt mir kaum etwas.“
Wie von Ben neu berechnet, war das Objekt ein Raumschiff oder besser eine Station. Als die CHARON näher herankam, wurden die Übertragungen deutlicher aufgefangen. Es handelte sich um verschiedenartige Ausdrucksweisen, die von einer elektromagnetischen Sprache herrührten und nichts anderes waren als das, was sie selbst gesendet hatten.
Ben wandte sich an Rudolf Stein. In seiner Eigenschaft als Kommunikationsoffizier war er für die Kontaktaufnahme zuständig. „Rudolf, kannst du etwas in Erfahrung bringen? Bekommst du Antworten?“
Leutnant Stein versuchte bereits Kontakt herzustellen, doch erhielt er keine Antworten. Alles, was die CHARON erreichte, waren seine zurückgeschickten Fragen. „Da gibt es wohl kein Leben in unserem Sinn. Höchstens, wenn überhaupt, nur elektromechanischer Art. Ein intelligentes Wesen hätte sicherlich bereits geantwortet. Und eine Künstliche Intelligenz ebenfalls.“
„Einigen wir uns erst einmal darauf, dass es kein Raumschiff ist, sondern nur eine Plattform“, meinte Hegen. „Und ich würde WANDERER als Namen durchaus übernehmen. Die Plattform scheint keinen eigenen Antrieb zu besitzen. Ihr wurde wahrscheinlich einmal ein ,Schubs‘ gegeben und seither driftet sie mit ungefähr 10.000 Kilometer pro Sekunde durchs Weltall. Ich bin dafür, dass wir der Plattform einen Besuch abstatten.“
Hegen gegenüber saß die Pilotin Patricia Kress. Sie war größer als die Armierungsoffizierin Petra Müller und hatte ein Gesicht, das so schön war, dass sie als erstklassiges Model hätte arbeiten können. Und während sich viele Modelle durch plastische Chirurgie „verbesserten“, war bei ihr alles natürlichen Ursprungs. Von der hohen Stirn mit den braunen Augen darunter bis hin zu ihren langen Beinen. Statt eine Modellkarriere zu beginnen, hatte sie an der Weltraumakademie studiert und als Beste ihres Jahrgangs die Ausbildung zur Pilotin bestanden.
Peer Dexter Hegen sah hinüber zu seiner Pilotin. Diese schien nur darauf zu warten, neue Befehle zu erhalten.
„Pat, umkreise WANDERER und dann bring uns in den Zenit, aber so, dass wir nicht in die künstliche Sonne schauen müssen. Ich will die Landschaft betrachten können.“
Sie wischte mit einer Hand über ihre Paneele und mit der anderen eine Strähne ihres brünetten Haares hinter das Ohr. Sekunden später nahm die CHARON gemächlich Fahrt auf und umrundete den einsamen WANDERER. Es schien so, als würde sich der Begriff für die Plattform endgültig einbürgern.
Der Diskus umrundete die Plattform wie ein Insekt ein riesiges Landsäugetier. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Hauptsächlich Wald. Drumherum ein künstlicher Fluss, der kein Anfang nahm und kein Ende fand. Stattdessen floss er hauptsächlich am Rand der Biosphärenkuppel entlang und mit einigen Windungen auch durch den Wald, durchquerte Wiesen, bildete ab und an Sandbänke aus, nur um wieder auf sich selbst zu treffen.
Die Besatzung der CHARON beobachtete von ihren Sitzen aus, wie ihr im Vergleich winziges Raumfahrzeug an der Biosphäre entlang flog. Ihre Schweigsamkeit, so kam es Björn vor, war dem Anlass angemessen tief und ehrfürchtig, selbst für Menschen.
Die Biosphärenkuppel war eine relativ flache künstlich angelegte Kreisfläche mit einer transparenten Kuppel mit einem Durchmesser von fünfzig Kilometern.
Es war schon eine komische Vorstellung, dass die CHARON hunderttausendfach darauf hätte Platz finden können; Björn versuchte sich vorzustellen, wie die CHARON in diesem großen Zylinder wie ein riesiges Modell in einer Vitrine schweben würde.
Plötzlich reagierte Björn Hartmann, der Astrogator der CHARON. „Da, eine offene Schleuse, groß genug, um die CHARON aufzunehmen.“
„Wir fliegen weiter“, meinte Peer Dexter Hegen. „Mit der CHARON werden wir bestimmt nicht einschleusen. Die Gefahr, durch einen dummen Fehler das Schiff zu verlieren, kann ich mir nicht leisten. Zu Fuß zur VASCO DA GAMA zurück geht nicht.“
Der Diskus flog weiter, immer an der künstlichen Welt entlang. Keine weiteren Auffälligkeiten. Außer den Messgeräten, Kommunikationsgeräten und Ähnlichem, die aus der Außenhülle herausragten. Sichtöffnungen, also Fenster, Bullaugen und Ähnliches, waren nicht zu erkennen. Das Raumschiff stand nun im Zenit der Kuppel, jedoch etwas tiefer, damit die künstliche Sonne die Beobachtung nicht störte. Der Ausblick war fantastisch. Die Ansicht füllte die ganze ein mal zwei Meter große Holographie. Jede Einzelheit erschien in dreidimensionaler Darstellung und warf den Schatten, wie es die Kunstsonne ermöglichte. Alle notwendigen Scans waren durchgeführt worden, sodass selbst kleine Einzelheiten zu erkennen waren. Fast alles Wald, dazwischen Wiesen in saftigem Grün, Hügel und ein paar Steinhaufen, die man jedoch nicht als Berge bezeichnen konnte. Überall blühte es und obwohl wild, machte die Oberfläche einen gepflegten Eindruck. Eben eine künstliche Welt, beeindruckend in der Dimension und der Kühnheit der Konstruktion. Eine Welt für sich, eine zwischen den Sternen driftende Biosphäre.
„Ich vermisse Lebewesen. Hat jemand von euch etwas gesehen?“ Peer blickte kurz in die Runde, bevor sein Blick wieder auf das Hologramm fiel. „Ben, kannst du einen Ausschnitt vergrößern?“
Der Angesprochene kam der Aufforderung sofort nach. Ben fuhr mit seinen schlanken, beinahe zart wirkenden Fingern über die Oberfläche seines Touchscreens, verschob virtuelle Regler, bis der gewünschte Erfolg zu sehen war. Das System ruckte nur kurz, als das Bild so weit heranzoomte, dass die Welt die holographische Darstellung ausfüllte. An den Rändern der ansonsten makellosen Oberfläche wurde die Darstellung, bedingt durch den Schutzschirm oder Glaskuppel, was immer es auch war, unscharf. Es erschien der Wald und eine hügelige Wiese davor.
Gestochen scharf konnte man nun den Blick auf eine künstliche Welt schweifen lassen, als wäre man nur zehn Meter vom nächsten Baum entfernt. Der Übergang von einer Wiese zum Wald war fließend. Es gab an dieser Stelle kein Unterholz. Und plötzlich rief Leutnant Rudolf Stein: „Da, auf zwei Uhr, hat sich etwas bewegt. Klein und pelzig.“
Die anderen waren wie elektrisiert. Sollte es dort Leben geben? Vielleicht sogar intelligentes Leben? Aber darauf wies im Augenblick nichts hin.
Wieder eine Bewegung. Ein pelziges, kleines Lebewesen. Es mochte etwa 20 cm lang sein, mit einem Schwanz, der ein Drittel der Körperlänge besaß. Graues Fell, schwarze Augen. Das Tier lief einen kleinen Hügel hinauf und machte Männchen. So konnte man den gelblichen Bauchpelz erkennen.
In diesem Augenblick stürmte eine Horde großer Primaten aus dem Wald. Der kleine Nager hatte keine Chance. Einer der Primaten erwischte ihn. In seinen Pranken sah das kleine Tier noch zierlicher aus. Jedoch nicht lange. Denn der riesige Primat biss dem Nager einfach den Kopf ab. Mit einem weiteren Bissen war der Nager verspeist.
Die anderen Primaten fingen an wie wild zu wühlen und fanden weitere Nager. Deren Lebenslauf verkürzte sich drastisch.
Das ganze Spektakel dauerte nur wenige Minuten und die Primaten verschwanden in den Wald. Zurück blieb eine verwüstete Hügelwiese.
„Was war das denn?“ Verblüfft sah die Besatzung auf die holografische Darstellung der fremden Welt. Ben sprach aus, was alle dachten. „Das ist sicherlich kein Paradies.“
„Rudolf, erhalten wir inzwischen