The Butterfly Tales: Imogen. Nadja Losbohm
Rhoslyn
Namensbedeutung: „Rose“
Herkunft: walisisch
Cerys
Namensbedeutung: „Liebe“
Herkunft: walisisch
Artis
Namensbedeutung: „Bär“
Herkunft: keltisch
Gräfin Andra
Namensbedeutung: „stark, mutig“
Herkunft: keltisch
Ein Wort an meine Leserin, an meinen Leser
Bevor es mit dem Abenteuer losgeht, möchte ich dir an dieser Stelle zwei Fragen stellen: Glaubst du, dass es mehr gibt, als dein Auge je erblickt hat? Glaubst du an Magie?
Behalte diese Fragen im Hinterkopf. Am Ende des Buches stelle ich sie dir noch einmal. Bis dahin wünsche ich dir ein wunderbares, phantastisches Lesevergnügen.
Deine Nadja
1
~
Alles begann mit einem Blick auf eine Tapete in einem Zimmer in einer Burg. Obwohl das nicht ganz stimmt. Eigentlich begann es mit dem Hereinbrechen einer eisigen Kälte, die das Reich Agrona überzogen hatte und in den Wochen, in denen sie nun bereits anhielt, viele Menschen hatte verhungern und erfrieren lassen. Aus Angst um seine Kinder, die den Schnee liebten, es genossen, in ihm herumzutollen, und die es erfreute, über den zugefrorenen Fluss auf der Ostseite unterhalb der Burg zu rutschen, hatte Lord Warner es ihnen strengstens verboten, hinauszugehen. Seine Tochter Prinzessin Laoghaire und sein Sohn und Erbe Prinz Anrai waren ihm und seiner Frau Herzogin Ailís das Liebste und Teuerste, das sie besaßen, und sie zu verlieren, so wie viele Eltern ihre Kinder verloren hatten in den vergangenen Tagen, wäre für sie das Tragischste gewesen, was sie sich vorstellen konnten, und würde dem Untergang ihres Hauses gleichen.
Doch wie Kinder nun einmal sind, voller Kraft und Bewegungsdrang, hielten es Prinzessin Laoghaire und Prinz Anrai nicht lange aus, still zu sitzen. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem sie nicht ihre Energie verbrauchten, wurden sie unruhiger und zappeliger. Nicht einmal mehr am Esstisch konnten sie sich zusammennehmen und manierlich mit ihren Eltern speisen.
„Himmelherrgott nochmal!“, rief Herzog Warner und schlug mit der Faust auf den Tisch, nachdem der Fuß seines Sohnes wiederholt gegen das Tischbein gestoßen war. „Ihr seid schlimmer als eine Horde Wiesel! Bevor ich euch doch noch in die Kälte gehen lasse“, hierbei blickte Herzogin Ailís entsetzt drein, „steht besser auf und tut irgendetwas, bei dem ihr euch austobt, damit ihr alsbald erschöpft und müde seid und endlich stillhaltet.“ Seine Kinder, die sich vor Freude strahlend erhoben, nun da sie die Erlaubnis hatten, in der Burg zu – ja, was?
„Wir könnten Fangen oder Verstecken spielen“, schlug Prinzessin Laoghaire vor, als sie mit ihrem Bruder das Speisezimmer verlassen hatte und sie beide den Flur entlangliefen, der zur Eingangshalle führte. Prinz Anrai schnaubte verächtlich bei der Vorstellung, sich die Zeit mit seiner Schwester und kindlichen Spielen zu vertreiben. Sie mochte sich mit ihren vierzehn Jahren noch für derlei Dinge interessieren. Doch er, nunmehr sechzehn Jahre alt, war bereits dem Kindesalter entwachsen und ein Mann. Er hütete sich gleichwohl, dies seiner Schwester gegenüber zu äußern. Sie würde ihn dafür nur auslachen und sagen, dass nur er sich für einen Mann hielt. Also stimmte er, wenn auch widerwillig und ohne anderweitige Ideen im Kopf, zu, Fangen zu spielen.
Sie jagten sich durch die gesamte Burg, rannten Treppen hinauf und hinunter, sprangen um Steinsäulen herum, liefen um Rüstungen und Bedienstete herum, bis es sie langweilte und sie zum Versteckspiel wechselten.
„Du zählst bis einhundert“, wies Prinzessin Laoghaire ihren Bruder an.
„Wieso das? Das kommt mir doch sehr lange vor. Bis ich bei einhundert angekommen bin, könntest du bis ins Dorf gelaufen sein“, entrüstete sich Prinz Anrai.
Seine Schwester zuckte mit den Schultern. „Dann wirst du eben schneller zählen müssen“, sagte sie und lief lachend los. Prinz Anrai rief ihr nach, dass sie unfair spielte und er wäre noch nicht bereit. Aber es war zwecklos. Ihr langer blonder Zopf und der letzte Zipfel ihres sonnengelben Kleides waren schon hinter der nächsten Ecke verschwunden und sie war zu weit weg, um ihn hören zu können. Mit knirschenden Zähnen begann er also zu zählen und übersprang dabei die eine oder andere Zahl, immerhin hatte seine Schwester mit ihrem frühzeitigen Loslaufen ebenfalls geschummelt. Denn wenn es eines gab, was Prinz Anrai nicht ertragen konnte, dann war es zu verlieren. In dieser Hinsicht kam er ganz nach seinem Vater, der nach der größten Schlacht, wie man sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte, das eroberte Reich kurzerhand in Agrona umbenannt hatte, zu dem selbst der Name Warner, dem neuen Herrscher, passte: Heer. Und genau wie dieses war der Herzog groß und stark.
Als Prinz Anrai fertig gezählt hatte, rief er: „Ich komme.“ Und schon jagte er seiner Schwester nach. Er schob Vorhänge beiseite, öffnete Truhen, hob umgedrehte Körbe an, kletterte in Kamine, krabbelte unter Betten, durchwühlte Kleiderschränke und suchte auch in den Hohlräumen unter Bodenbrettern, von denen er wusste, dass es diese Geheimverstecke gab. Unzählige Türen zu Räumen öffnete er und begegnete dabei etlichen Dienern, die ihm keine Auskunft, wo seine Schwester steckte, geben konnten oder wollten.
Die Zeit verging und Prinz Anrai kam es vor, als hätte er jeden Winkel der Burg nach Prinzessin Laoghaire abgesucht. Ob sie tatsächlich das Dorf als ideales Versteck erwählt hatte? Aber nein. So einfältig konnte selbst sie nicht und hingegen der Anordnung ihres Vaters hinausgegangen sein. Trotzdem warf er einen Blick zum Fenster hinaus, um nach verräterischen Fußspuren im Schnee zu suchen, die von der Burg wegführten. Erleichterung machte sich in ihm breit, als er den Schnee unberührt vorfand, der am Vormittag gefallen war.
„Hm, wo könnte sie sein?“, überlegte er und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. Er musste lange nachdenken, bis ihm der Ort einfiel, an dem er noch nicht nachgesehen hatte: im Ostturm. Doch war es wirklich möglich, dass Prinzessin Laoghaire dorthin gegangen war? In dem Turm gab es lediglich ein Zimmer und dieses war, seit Prinz Anrai denken konnte, verschlossen. Selbst die langjährige Dienerschaft konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich dort oben befand, da der Schlüssel zu dem Raum verloren gegangen war. Nachfragen bei seinem Vater waren ebenso wenig gestattet wie bei seiner Mutter, die für gewöhnlich die Ruhe in Person war. Nur wenn es um den Ostturm, der im Gegensatz zu den übrigen Türmen aus unbekanntem Grund eine doppelte Zinnenkrone besaß, und sein Geheimnis ging, geriet Herzogin Ailís in heftige Aufregung. Prinz Anrai zuckte mit den Schultern und lief in Richtung des Turms. Einen Versuch war es wert.
Außer Atem erreichte Prinz Anrai die Stufen, die den Ostturm hinaufführten.
„Laoghaire? Bist du da oben?“, rief er und lauschte auf Antwort. Doch es blieb alles still. Er fragte sich, ob er sich geirrt hatte und sie doch nicht hierhergekommen war. Machte er sich lächerlich, suchte an völlig falscher Stelle und jeden Moment würde sie hinter ihm stehen und Buh! rufen, dabei schallend lachen? Stirnrunzelnd blickte er hinter sich. Nein, er war allein.
„Also schön“, sagte er zu sich selbst, „ich gehe hinauf und schaue nach, ob du dort bist. Aber das ist mein letzter Versuch. Wenn ich dich jetzt nicht finde, sollst du eben verschollen bleiben.“ Und so erklomm er die Stufen eine nach der anderen und erreichte schließlich die verriegelte Tür zu dem rätselhaften Raum. Allerdings – die Tür war gar nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, sie stand weit offen und in der Mitte des runden Zimmers saß seine Schwester auf dem Boden und starrte vor sich hin. Prinz Anrai wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: über die geöffnete Tür, in deren Schloss kein