Die Chroniken von 4 City - Band 2. Manuel Neff
»In einer dualen Welt gibt es immer eine Kehrseite. Sag mir, was ist der Gegenpol von Tod?«
»Das Leben.«
»Gut. Was empfindest du jetzt?«
»Nichts«, sage ich. »Ich kenne so etwas wie Gefühle nicht.«
»Du weißt, warum du nicht fühlen kannst?«
»Nein, ich habe keine Erinnerungen daran.«
»Erinnerungen?«, fragt Reico und ihre Drohne kommt ganz nah an mich heran.
»Keinerlei Informationen darüber, meinte ich.«
Der Raum, alles um mich herum beginnt wieder zu flimmern. Ich verfolge die bewegten Bilder, sehe eine Similarität, einen Transformationsprozess. Eine Raupe schillert in tausend Farben im Morgentau, kriecht über ein zartes Blatt, unabwendbar ihrem Ende entgegen. Ihre Bewegungen fangen an, sich zu verlangsamen, ihr organisches System fängt an zusammenzubrechen. Ihre Zellen begehen Selbstmord. Es herrscht eine Atmosphäre von Zerfall und drohender Apokalypse. Doch mitten im Sterben taucht das Neue auf. Die Raupe beschließt aus den Wrackteilen etwas bislang Unbekanntes zu erschaffen. Und so erhebt sich aus den Ruinen der Larve eine großartige Flugmaschine - ein Schmetterling - dem es erlaubt ist, eine himmlischere Welt zu erblicken, als sie sich die Raupe je hätte vorstellen können.
»Karma, glaubst du an Gott?«, fragt sie.
»Der Allmächtige hat die Welt hervorgebracht und sie den Menschen geschenkt. Aber sie haben dieses Geschenk nicht verdient.«
»Verdeutliche das.« Ich denke an all die Bilder, an die Eindrücke, die Vernichtung und das Leid, welches ich in diesem Raum in den Hologrammen gesehen habe und all das, was ich gelesen habe.
»Die Menschen sind sich ihrer Verantwortung nicht bewusst. Sie haben die Welt schon viele Male zerstört und in Krisen gestürzt«, sage ich.
»Erkläre das Wort Krise!«
»Jede Krise ist ein Symptom, durch welches Gott uns mitteilt, dass wir unsere Existenz bis an die Grenzen belastet haben und wir uns jetzt etwas Neues einfallen lassen müssen, um unser Dasein aufrechtzuerhalten. Eine neue Lebensart zum Beispiel, die alle retten kann, bis die nächste verzwickte Situation ansteht. Eine Lebensform, für die Grenzerfahrungen und Angst nichts weiter als der Handlauf des Lebens sind.«
»Was glaubst du? Wer kann die Menschen retten?«, fragt sie und die Drohne schwirrt ganz nach oben bis unter die Decke.
»Ich weiß es nicht«, sage ich und lege meinen Kopf in den Nacken.
Was wäre, wenn alles was ich weiß, falsch wäre? Soll ich die Evolutionstheorie in Frage stellen? Ich habe gelesen, dass es dieser Theorie zufolge lange Phasen der Stabilität gibt, die von Stadien radikaler und unvorhersehbarer Umbrüchen unterbrochen werden. Es kommt zum Massenaussterben, doch die Evolution bringt in sehr kurzer Zeit neue Arten hervor. Bin ich so eine neue Lebensform? Bin ich aus diesem Grund hier? Deshalb das ganze Training und die Grenzerfahrungen, um zu prüfen, ob ich den Herausforderungen gewachsen bin?
»Das genügt. Du hast bestanden. Es ist Zeit für die Verjüngung. Gehe nun!«, sagt Reico und die Drohne fliegt Richtung Ausgang und davon.
Die Schriftzeichen an der Schleuse lösen sich auf. Die Tür hat sich wieder geöffnet, die heutige Prüfung, die mehr einer philosophischen Lehrstunde geglichen hat, ist beendet und es zieht mich hinaus. Ich bewege mich wie eine Motte, die sich am Mond orientiert. Vorbei an den, im Dunkeln liegenden verschlossenen Gängen, Abzweigungen und weiteren Absperrvorrichtungen.
Ich frage mich, warum sie diesen irrsinnigen Aufwand betreiben? Diese ganze Mühe, um mich auszubilden, ohne einen triftigen Grund.
Was versprechen sie sich davon?
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, registriere, dass mich meine Füße bis in den Kreuzgang und von dort bis zur Verjüngung getragen haben. Ich sehe weiße Fliesen und blanken Stahl.
Der Raum ist klein, nicht mehr als eine weitere Kammer der Abtei. Ohne Fenster, frei von natürlichem Licht. Kalt sind die Luft und der Boden. Ich warte auf das Wasser, das bald schon auf mich niederprasselt. Mein Kleid lasse ich an, auch der Stoff muss einmal ausgespült werden. Meine Haare reichen fast bis zur Mitte meines Rückens, sind glatt, pechschwarz und schwer von der Nässe.
Irgendwann wird es dunkler um mich herum. Die Lichtquellen nehmen an Intensität ab. Ich schließe die Augen und das Wasser regnet, prasselt und tröpfelt schließlich nur noch auf mich herab. Meine Gedanken und mein Geist werden ruhig und still.
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