Hilferuf aus Griechenland. Irene Dorfner
Stille und Ruhe taten ihm unendlich gut. Dann hörte es auf zu regnen. Anstatt umzukehren, lief er weiter, das Wetter konnte ihm nichts anhaben.
Erst am späten Nachmittag war er erschöpft, klatschnass und unendlich zufrieden wieder an seinem Wagen. Er wechselte die Kleidung und Schuhe, legte eine Led-Zeppelin-CD ein und fuhr zurück.
Beim Einbiegen in die Einfeldstraße sah er Christine auf der Straße, die abermals ungeduldig zu warten schien. Er parkte und stieg aus.
„Endlich. Was ist mit deinem Handy los? Seit Stunden versuchen wir, dich zu erreichen.“ Christine war stinksauer.
„Das Handy schalte ich immer aus, wenn ich wandern gehe. Ist etwas passiert?“
„Seit heute Mittag ruft immer wieder eine Frau auf dem Präsidium an, die dich unbedingt sprechen muss. Ursula sagt, es ist sehr dringend.“
„Welche Frau? Wer will mich sprechen?“ Leo dachte an Viktoria und lächelte. Dann wurde er misstrauisch. Christine kannte alle Frauen in seinem Umfeld und hätte längst den Namen genannt, offensichtlich war es eine Fremde.
„Jetzt steh nicht blöd da, ruf Ursula sofort an.“
Leo wählte die Nummer seiner früheren Kollegin, die sich nach dem ersten Klingeln meldete.
„Kußmaul!“, brüllte sie ins Telefon.
„Hier ist Leo. Ich soll mich bei dir melden.“
„Endlich! Deine Frau ruft seit Stunden an, sie muss dich dringend sprechen, sie klang verzweifelt. Sie hat mir eine Nummer gegeben, unter der sie zu erreichen ist. Nach der Vorwahl zu urteilen, ist sie im Ausland. Hast du was zu schreiben?“
Seine Frau? Leo hatte sich bestimmt verhört.
„Hast du gesagt, meine Frau möchte mich sprechen?“
„Ja. Sie sagte, sie sei deine Frau. Ihr Name ist Kerstin.“
Leo war sprachlos, denn seine geschiedene Frau hieß tatsächlich Kerstin. Was war hier los? Was wollte sie von ihm? Seit über sieben Jahren waren sie geschieden und er hatte seither nichts mehr von ihr gehört.
„Bist du noch dran? Hast du etwas zu schreiben?“
Ursula Kußmaul wurde ungeduldig. Se hatte noch eine Vernehmung vor sich, die sich bis weit in die Nacht ziehen würde.
Leo ging ins Haus, Christine folgte ihm. Aus seiner Jackentasche nahm er einen Kugelschreiber und ein Stück Papier. Das war sein Kontoauszug, aber das war jetzt gleichgültig.
„Gib mir die Nummer.“
Leo notierte sich die Nummer und war sich nicht ganz sicher, ob er auch richtig verstand. Er fragte mehrfach nach, aber Ursula bestätigte. Er bedankte sich, starrte lange auf den Zettel und sah dann Christine an, die neben ihm stand.
„Sieh dir die Nummer an. Die Vorwahl 0030 – das ist in Griechenland. Wenn das wirklich meine Exfrau ist, was zum Teufel will sie von mir?“
„Vielleicht braucht sie deine Hilfe. Worauf wartest du? Ruf an, dann wirst du es erfahren.“
Christine machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen, als Leo die Nummer wählte. Es brauchte lange, bis sich endlich eine Frau meldete. Leo erkannte sie sofort an der Stimme: Das war Kerstin, die ihm vor über sieben Jahren das Herz gebrochen hatte. Sie war auch der Grund, warum er sich von Karlsruhe nach Ulm versetzen ließ, denn er wollte ihr und ihrem neuen Partner auf keinen Fall über den Weg laufen.
„Ich bin es, Leo.“
Er wartete ab, überließ es ihr, zu sprechen.
„Endlich! Ich habe so sehr auf deinen Anruf gewartet. Ich brauche dringend deine Hilfe, Leo.“
Sie klang sehr verzweifelt und Leos Magen zog sich zusammen.
„Was ist passiert?“
„Mein Sohn Marcel ist verschwunden und ich weiß nicht, was ich machen soll.“
Leo konnte sie sehr schlecht verstehen, denn sie sprach sehr leise, schluchzte und weinte. Die Tatsache, dass sie einen Sohn hatte, war für ihn neu und schockierte ihn. Warum, wusste er selbst nicht.
„Bitte beruhige dich und erzähl ausführlich. Fang von vorn an.“
„Wir sind mehrmals im Jahr in Griechenland auf der Insel Kos, mein Mann Anton hat hier schon seit vielen Jahren ein Haus und ein Boot. Seit gestern Vormittag ist mein Sohn verschwunden. Er spielte am Strand mit anderen Kindern, während ich ein Buch las und ihn immer im Auge hatte. Auf einmal war er weg, spurlos verschwunden. Die anderen Kinder sagten, er wollte die Frisbeescheibe holen – und kam nicht mehr wieder. Natürlich habe ich sofort die Polizei informiert, aber ich habe nicht das Gefühl, dass die wirklich etwas unternehmen. Sie haben mich nur vertröstet, nicht einmal Daten notiert.“
Leo verstand nicht, wie er dabei helfen könnte und was sie von ihm wollte.
„Hier stimmt was nicht, Leo. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Meinen Mann kann ich nicht erreichen. Er fuhr gestern mit dem Boot geschäftlich in die Türkei. Bitte hilf mir, Leo. Du bist doch Polizist und weißt, was man in so einem Fall macht. Ich möchte meinen Sohn zurück und bitte dich inständig, ich flehe dich an, mir zu helfen.“
„Kerstin hör mir zu. Es tut mir sehr leid, dass dein Sohn verschwunden ist und was du durchmachen musst. Ich würde dir wirklich gerne helfen. Ich habe in Griechenland keinerlei Befugnisse und wüsste nicht, wie ich dir helfen könnte. Vor allem verstehe ich nicht, warum du gerade mich um Hilfe bittest.“
„Weil Marcel dein Sohn ist, Leo.“
3.
Die Worte seiner Exfrau hallten in seinem Kopf. Er hatte einen Sohn, von dem er nichts wusste? So grausam konnte seine Exfrau doch nicht sein. Warum hatte sie ihm das Kind die ganzen Jahre vorenthalten? Wusste ihr Mann davon? Wo war das Kind? War es in Gefahr?
Die Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Er hatte sich die Adresse auf Kos notiert und für ihn stand fest: Er musste mit dem nächsten Flugzeug nach Kos und seinen Sohn suchen.
„Komm erst mal zu dir, Leo, du bist ja völlig durcheinander.“
Christine hatte sofort verstanden, was Leo eben gehört und zu verarbeiten hatte. Und natürlich unterstützte sie ihn in seinem Vorhaben, umgehend nach seinem Sohn zu suchen. Aber sie musste ihn bremsen, damit er besonnen und nicht völlig planlos vorging. Sie schenkte ihm einen Schnaps ein, den sie ihm beinahe einflößen musste. Auch sie musste Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie sie Leo helfen konnte und was das Klügste wäre. Langsam bekam Leo wieder Farbe im Gesicht.
„Ich habe einen Sohn, Christine. Kannst du dir das vorstellen?“ schrie er beinahe. Er hatte sich immer Kinder gewünscht, aber nicht so.
„Natürlich kann ich mir das vorstellen, warum auch nicht? Wobei die Umstände sehr ungewöhnlich sind und ich nicht verstehen kann, warum deine Exfrau darüber geschwiegen hat. Normalerweise stehen Mütter wegen des Unterhaltes beim Kindsvater sofort auf der Matte. Schwamm drüber, sie wird schon ihre Gründe gehabt haben und du wirst sie direkt von ihr erfahren. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen und müssen Schritt für Schritt vorgehen. Du gehst duschen, du stinkst fürchterlich. Und ich kümmere mich inzwischen um einen Flug und ein Hotel, denn bei deiner Exfrau und ihrem Mann kannst du ja schlecht übernachten.“
Wie ferngesteuert nickte Leo und ging ins Bad. Er war immer noch völlig durcheinander. Die Dusche tat ihm gut. Nachdem er das heiße Wasser auf kalt eingestellt hatte, konnte er wieder einigermaßen klar denken. Er zog sich an und ging zu Christine ins Wohnzimmer, die eben ein Telefongespräch beendet hatte.
Die Frau war wirklich ein Schatz, er konnte sich in allen Lebenslagen voll und ganz auf sie verlassen.
„Heute geht kein Flug mehr nach Kos. Ich habe dir für morgen früh ein Ticket hinterlegen lassen, der Flug ist um 5.50 Uhr. Ein Hotelzimmer habe ich ebenfalls gebucht, hier ist die Adresse.“