Violet - Verfolgt / Vollendet - Buch 6-7. Sophie Lang

Violet - Verfolgt / Vollendet - Buch 6-7 - Sophie Lang


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      Ich bin unfähig, das was mich bewegt, umtreibt, rastlos macht, in Buchstaben, für alle, die nach mir kommen, festzuhalten.

      Ein schwarzer Vogel fliegt vorbei. Ich sehe ihm nach. Hope wüsste wahrscheinlich, welcher Gattung er angehört. Vielleicht ein Rabe oder so. Ich weiß es nicht. Ich schließe meine Augen in der Hoffnung, dass etwas passiert, dass die Stunden und Tage des Trainings Früchte tragen.

      

       Sie war wie Elektrizität. Entfesselte, reinste Energie. Geführt, gelenkt durch Bewusstsein. Jeder lebende Körper ist im Grunde nichts anderes als genau das. Geist und Energie. Und jeder tote Körper unterscheidet sich von den Lebenden durch das nicht Vorhandensein dieser Zwei, die alles Allgegenwärtige in Formen zu wandeln vermögen. Die Welt, der ganze Kosmos, ist ein Ozean. Jedes Wesen ein Tropfen, eine Welle, eine Kräuselung auf seiner unendlich weiten Oberfläche. Alles und jeder sind miteinander verbunden und der Glaube an die Individualität ist letztlich doch nur eine Illusion.

      

      Da war sie wieder.

      Die Stimme in meinem Kopf.

      Meine Stimme, meine Intuition.

      Als würde ich in einem anderen Leben, in einer anderen Welt ein Selbstgespräch führen. Ich habe unter Hopes unerbittlicher Anleitung geübt. Bringe es nun fertig, auf die andere Seite überzutreten, ohne wesentlich die Kontrolle zu verlieren, ohne mich für Stunden oder ganze Tage in Luft aufzulösen. Ich habe gelernt, auch dieser neuen Fähigkeit nicht willenlos ausgesetzt zu sein, sondern sie bewusst einsetzen zu können. Dennoch fürchte ich mich jedes Mal davor, es erneut zu tun.

      Ich blicke auf das fast leere Papier, auf meine blauen Fingerspitzen und dann fliegt ein schwarzer Vogel vorbei. Schon wieder?

      Er beschreibt genau die gleiche Flugbahn. Es ist der gleiche Flügelschlag, kommt aus der gleichen Richtung?

      Was war das? Etwa der gleiche Vogel, der noch einmal eine Runde gedreht hat?

      Dann beginne ich die Worte aufzuschreiben, die mir meine Intuition zugeflüstert hat, während ich nur kurz auf der anderen Seite war. Ich beende den letzten Satz mit dem Wort Illusion, dann höre ich sie.

      »Das ist ganz schön krass, findest du nicht?«

      Mein Magen krampft zusammen. Eine menschliche Reaktion, ein Überbleibsel, das mir unmissverständlich klar macht, dass ich nicht das verkörpere, was ich glaube über die wahre Beschaffenheit der Welt zu wissen. Ich weiß, es gibt keinen Grund, sich zu erschrecken, sich vor irgendetwas zu fürchten und doch jagt ein Adrenalinstoß durch meinen Körper. Völlig unbegründet, denn es ist nur meine beste Freundin. Hope steht hinter mir und schielt über meine Schulter. Ich schlage das Buch abrupt zu.

      »Du spionierst mich aus, schaust, was ich schreibe«, klage ich sie an, ohne sie anzusehen.

      »Nur weil du gesagt hast, dass es kein Tagebuch wird, sondern etwas, das einmal alle lesen dürfen. Alle, die sich dafür interessieren.«

      »Das stimmt, aber ich bezog das auf einen Zeitpunkt irgendwann in der Zukunft. Wenn es fertig ist und nicht wenn ich gerade unbeholfen, die ersten Zeilen zu Papier bringe.« Hope setzt sich neben mich ins Gras und legt mir ihren Arm um die Schulter. Sie hat sich ihre Augen dunkel geschminkt, sich in kniehohe Lederstiefel, braune Leggins und ein enganliegendes weißes Top gekleidet. Sie sieht umwerfend aus.

      Mit ihren schwarzen Haaren hebt sich ihre Silhouette noch zusätzlich von der umgebenden Landschaft ab. Ich schaue an mir hinab, komme mir neben ihr, nur in Jeans und dem zu weiten T-Shirt, etwas ungepflegt und stillos vor. Ist doch eigentlich auch egal.

      Was haben sie und ich schon zusammen durchgemacht, überlege ich jetzt? Das könnte wirklich schon genügend Aufregung für ein ganzes Leben sein und ich zerbreche mir über so etwas Belangloses wie Klamotten den Kopf.

      »Komm schon, reg dich nicht auf. Vielleicht kann ich dir sogar dabei helfen. Du musst zum Beispiel unbedingt reinschreiben, dass die Hauptdarstellerin in deinem Buch nicht schlafen will, weil sie Angst davor hat, für ganze Wochen einfach so von der Bildfläche zu verschwinden, um dann urplötzlich wieder wie aus dem Nichts aufzutauchen. Dann schreibst du noch auf, dass sie diese Fähigkeit mehr und mehr in den Griff bekommt und unbedingt weiter üben muss. Und dann auch, dass sich ihre Freunde in ihrer Abwesenheit trotzdem unendlich viele Sorgen machen und sich fürchterlich erschrecken, wenn sie plötzlich wieder aus der Astralwelt erscheint und einfach so Hallo sagt.«

      »Das sagt gerade die Richtige. Wie aus dem Nichts aufzutauchen und einen halb zu Tode zu erschrecken, hast du definitiv besser drauf als ich«, meine ich trocken und stupse meinen Ellenbogen liebevoll in ihre Seite.

      »Autsch«, quietscht Hope übertrieben. »Na warte, du kleines, verzogenes Biest, das zahl ich dir heim«, sagt sie und boxt mir auf die Schulter.

      Was dann folgt, gehört zu unserem alltäglichen Zeitvertreib. Jemand könnte sagen, wir wären irre. Vielleicht stimmt das ja auch, aber ich liebe es über alles, mit Hope zu kämpfen. Es gibt nichts Vergleichbares, das mich körperlich mehr herausfordert, wie es mit dieser jungen Frau aufzunehmen. Ihre Bewegungen sind unwahrscheinlich schnell und ihre Attacken variantenreich, listig, nicht vorhersehbar.

      Wie Bestien aufeinander loszugehen, hilft uns fit zu bleiben und für den Ernstfall zu trainieren. Niemand sollte uns in einem solchen Moment zu nahe kommen. Das Risiko sich, bei dem Versuch uns auszuweichen, tödlich zu verletzen, ist zu groß.

      Hope rennt in Blitzgeschwindigkeit um den nächststehenden Baum. Kurz verschwindet ihre schlanke Gestalt hinter dem mächtigen Stamm, dann sehe ich sie wieder. Sie hüpft hoch, nimmt Schwung an einem der unteren Äste und springt mich an, als wäre sie ein verzaubertes Mischwesen, zusammengesetzt aus der Gelenkigkeit eines Gorillas, gepaart mit der Schnelligkeit eines Panthers.

      Ich rolle mich unter ihrem heranfliegenden Körper weg, werfe meine Arme nach oben und verpasse ihr einen Hieb, der sie am Oberschenkel trifft. Sie schlägt im nahen Unterholz auf, Äste knicken ein, welke Blätter fallen von den Bäumen. Sofort ist sie wieder auf den Füßen und rollt wie eine Lawine mit einem Wirbel aus Flickflacks auf mich zu. Ihre Faust rast auf mich zu, stoppt wenige Zentimeter vor meiner Brust, gefangen in meiner Hand. Ich projiziere einen Abwehrschild, der sie zurückweichen lässt, aber Hope schneidet ihn mit einer Technik, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe, entzwei.

      »Was zum Teufel war das?«, frage ich verblüfft und trete einen Schritt zurück. Sie blickt auf ihre Hände. »Süße, du musst noch so viel lernen«, lacht sie, dann ist sie bei mir, stößt mich mit solcher Kraft von sich, dass ich rückwärts taumle und beinahe zu Boden stürze. Der Schild, der mich sogar vor Gewehrkugeln schützen konnte, ist plötzlich völlig nutzlos.

      Dann schießt sie wieder auf mich zu. Ich erwarte sie mit erhobenen Fäusten, will sie irgendwie abwehren, doch kurz bevor sie auf mich knallt, schert sie unerwartet zur Seite aus, beschreibt einen Halbkreis mit ihrem linken Bein, über das ich es gerade noch schaffe hinwegzuspringen. Sie duckt sich flink unter meinem nächsten Schlag durch, bekommt mein Handgelenk zu fassen, dreht sich und schleudert mich über ihre Schulter. Ich lande dumpf auf dem Waldboden, mein Kreuz beklagt sich, als ich zappelnd wie ein Käfer auf dem Rücken liegen bleibe. Dann ist sie schon wieder über mir, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, rammt sie mir ihr Knie auf die Brust und legt ihre Finger um meine Kehle.

      »Gewonnen«, flüstert sie und pustet sich die wild vom Kopf stehenden Haare aus dem Gesicht. Ihre dunkel umrandeten Augen glühen aufreizend. Ihre Tattoos versprühen Feuer, funkeln böse. Wir schauen uns tief in die Augen. Eine, zwei, drei Sekunden lang.

      Dann prusten wir gleichzeitig los. Ausgelassen. Glücklich lachen wir, bis uns Krämpfe überwältigen. Kugeln uns über den Waldboden wie Hundewelpen. Später, als sich unsere Lachmuskeln wieder halbwegs beruhigt haben, kriechen wir erschöpft zurück zur Anhöhe. Sie schlüpft aus ihren Stiefeln, ich aus meinen Turnschuhen. Dann strecken wir unsere Beine im trockenen Gras nebeneinander aus und lassen nur noch unsere Fußzehen miteinander ringen. Die Sonne strahlt in unsere Gesichter und wärmt uns. Ich


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