Ein ganz böser Fehler?. Mike Scholz
Andrea – von Lisa erfuhr ich, dass ihre Mitstreiterin so heißt – links von mir, Lisa auf der anderen Seite. Doch ich laufe allein; Andrea und Lisa greifen nur zu, wenn's mal für mich eng wird. Und das passiert schon mal ab und zu, nicht immer, aber immer weniger. Und das dadurch aufkommende Hochgefühl bringt mich auf den Gedanken, die rechte Krücke hoch zu strecken, nur mit der linken zu laufen.
»Mike, was soll'n das??«, ruft daraufhin erschreckt Lisa. Und auch Andrea rügt mich.
»Ich fühlmich superin Form, wasch ausnutzn muss! Schließich willich jama mitteener Krücke ouch draußen loufn könn! Un logischerweise muss dafürmadder Anfang gemacht werdn!«
»Aber wir üben das doch drin schon mit dir!«
»Hm, stimm, ja.« – Seit gestern. – »Aberamit schließch niaus, dasoff draußn zu verlagern.«
»Was soll ich dazu sagen?«, ist sich Lisa unschlüssig.
Ich grinse sie an, was so viel bedeutet wie: Nichts! Und laufe weiter wie bisher.
*
Wiedermal Post von der Holländerin. Eigentlich habe ich daran völliges Desinteresse mittlerweile und ebenso lang fallen meine Antworten aus. Vom Inhalt her. Ich schreibe halt ein bisschen größer, damit es viel aussieht. Aber ich muss laufend nachgrübeln, was ich ihr schreiben soll. Normalerweise schreibe ich immer aus dem Bauch heraus, sie kann mich aber nicht inspirieren; nicht mal ihre Briefe kann ich selektieren, weil da immer das gleiche drin steht: Vorhaltungen, dass ich sie vor dem Unfall mal vergnatzt habe; Vorhaltungen, dass ich sie immer noch verspotte (?); Sexzeitschriften sind dabei und Versprechungen (die ich schon gar nicht mehr glaube), dass sie mal kommen will. Aber die letzten zwei Briefe waren die Krönung: Sie schrieb in Holländisch! Ich kann kein Wort von der Sprache, und das weiß sie auch. Spätestens von dem Zeitpunkt an, als ich es ihr mitteilte. Sollte aber dieser Brief wieder in Holländisch geschrieben sein, raste ich aus.
Ich reiße ihn auf, schaue ihn mir an – holländisch. In mir brodelt's. Ich schnappe mir sofort Stift und Briefpapier, gehe zum Tisch, schreibe nur einen einzigen Satz: »Entweder, Du schreibst wieder in Deutsch oder Englisch, oder Du lässt es bleiben!« Und hoffe, dass das deutlich genug ist.
Die darf doch nicht denken, weil ich zum Krüppel gemacht wurde, lechze ich nach derartigen Erniedrigungen, will ihr den Fußpilz von den Zehen lecken. Die hat doch nicht mehr alle. Ich sehe nach wie vor keine Veranlassung dazu, mir alles gefallen lassen zu müssen.
8
Sonnabend, 9. Februar. Früh.
Ich stehe fertig angezogen am Ausgang mit Holger zusammen, der mir versprach, dass sein Vater mich mitnimmt. Welcher gerade um die Ecke kommt. Eeh, und es ist erst halb acht, so zeitig war ich sonnabends von hier aus noch nie zu Hause. Natürlich bin ich auch aufgeregt, weil ich nach drei Wochen endlich mal wieder aus diesen bedrückenden Krankenhausmauern raus kann.
»Guten Morgen!«, begrüßt uns Herr Fach. »Mike, ich habe von Holger schon gehört, dass ich Sie mitnehmen soll. Alles fertig?«
Ich bejahe.
In dem Moment geht die Tür des Chefarztzimmers auf, Frau Christoph tritt heraus: »Guten Morgen, Herr Fach!«
Plötzlich sieht sie mich: »Nanu, Herr Scholz, werden Sie auch abgeholt?«
»Herr Fach nimmichmitt.« Siegessichere Antwort.
»Das geht aber nicht, Herr Scholz! Wo wollen Sie denn hin? Wenn Ihnen was passiert, haben wir die Schuld! Nein, so geht es auf keinen Fall!«
Meine Siegessicherheit nimmt in dreifacher Lichtgeschwindigkeit ab, meine Augen versuchen, sie so stechend als nur irgend möglich zu fixieren, zu hypnotisieren, das kleine Zentrum in ihrem Kopf, das dieses Urteil soeben ausgespuckt hat, umzupolen – ich starte aber noch einen letzten Versuch: »Offgenommn werdch von Freundn, midän habich schon geredt. Dennes hat sich ja schon lange anedeut, dassichm Symbol meier Mutter die letze Balsam–sam-samierung gebn muss!« Pokern.
»Und was ist, Herr Scholz, wenn die nun nicht da sind?«
»Die sinda!«
»Ich traue Ihnen nicht, Herr Scholz!« – Sie muss in ihrem Studium eine Menge Rhetorik gehabt haben: Sie hat ihre Professorglotzen aufgesetzt und wackelt fleißig mit dem Kopf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen; den Mund reißt sie weit auf, so dass man, wäre man daran interessiert, dabei nachschauen könnte, wo sie ihre Plomben sitzen hat. »Haben Ihre Freunde ein Telefon?«
»Die wohnin Zittau! Da isneignes Telefon ni anner Tagesodnung!«
»Schlecht für Sie! Wir werden noch einmal Ihre Mutter anrufen; wenn die damit einverstanden ist, können Sie mitfahren. Aber zu ihr!« Damit sagt sie Schwester Kringel Bescheid, die sofort anrufen geht.
In mir kocht es, ich fühle mich, als wenn ich im Knast eingesperrt wäre, die Wände des Flurs rücken wieder paar Augenbreit oder mehr zusammen. Ich stehe direkt vor dem Ausgang, brauche nur hinauszugehen und diesen Komplex zu verlassen. Und wenn ich es könnte, würde ich es auch tun. Und dann notfalls trampen. Aber den Blick für das Realistische muss ich mir bewahren: Ich kann es nicht – noch nicht. Aber wenn es soweit ist, wird mich niemand hier mehr aufhalten können. Doch dann werde ich auch gar nicht mehr hier sein. Aber in dem jetzigen Moment könnte ich die Christoph auf irgendeine Weise massakrieren. Sie war mir noch nie sympathisch; aber jetzt ist der Ofen ganz aus. Sie wird sich noch – hör auf, unflätig zu fluchen, Mike!! – Denn sie kennt das Ergebnis genau: Nie, nie, nie wird meine Mutter diesem Kompromiss zustimmen!
Schwester Kringel kommt wieder. »Die Familie, wo das Telefon steht, ist zwar da, aber deine Mutter nicht«, verkündet sie mir mitleidig.
»De pennoch!«
»Soll ich sie später noch einmal anrufen?«
»Nee, danke, brauchnSe ni! Da kommeh nischt Nuzzbringndes raus!«
»Was ist denn mit ihr los?«, will Frau Christoph wissen.
»Ach, dasisbeirr soübich. Außerdem kannsess ni ertragn, dassch wieder flügge werde unihr davonflattre.«
»Klingt ja schlimm! Aber schon, als sie eingeliefert wurden, war uns klargeworden, dass da einiges schief läuft.«
»Genau! Und daum willichs jetze beendn! Unner Herr Fach würd mich ja mitnehmn.«
Sie bleibt aber auf ihrem Verbot sitzen, erzählt mir was von Verantwortung, die sie dafür trüge. Und sie sei sich darüber nicht im Klaren, wo ich das Wochenende bleibe. Und dass ich zu meinen Freunden ziehen könne, wäre ihr nicht sicher genug. Und bla-bla-bla.
Dabei scheint sie aber zu vergessen, dass es in Zittau auch Brücken gibt.
»Nächse Woche off alle Fälle!«, verabschiede ich mich von Herrn Fach und seinem Sohn, als die Christoph verschwunden ist. Dann gehe ich wutentbrannt eine rauchen.
*
Nach dem Mittagessen halte ich keine Verdauungsruhe, sondern schreibe einen Brief mit der Aufschrift »dringend« an Mascha und Kulle. In ihm lege ich ihnen meine Bitte dar, dass sie in der nächsten Woche herkommen, damit ich wieder Urlaub kriege.
Hoffentlich tun sie es.
*
Nachmittag.
Draußen ist es sonnig. Eine sehr gute Gelegenheit, Pigmente zu haschen und dabei was für die Lauffertigkeiten zu tun.
Ich teile es Pfleger Helmut mit.
»Eine rauchen?«, will er wissen.
»Nee, nee, übn. Daheeme hättichs ouch gemacht, also übertage ichsoff hier!«
»Im Gelände?«, fragt er nun erstaunt.
»Ja wodn sons?«
»Da gehen Sie aber nicht alleine, da nehmen