Ein ganz böser Fehler?. Mike Scholz
»Können wir wieder?«, fragt Manolo an.
»Ja!«, habe ich mich noch nicht ganz ausgeknurrt.
*
Drinnen, während ich sitze und warte, beobachte ich die Leute und sehe bei ihnen alle Stufen von Mitgefühl bis Verachtung.
Aber was soll's? Mitleid finde ich beschissen, meinen jetzigen Zustand verachte ich selber. Vor allem, wenn ich in den Spiegel gucke, erfasst mich das kalte Grausen. Ergo – nicht darauf achten. Und ein Stückchen weg kann ich jetzt sowieso nicht viel erkennen, denn ich tappe in verschwommener Dämmerung. Denn nicht einmal die Brille, die sich bei meinem Tiefflug nach Silvester zwischen Fußboden und meine Nase drängte, habe ich zurück. Unklar, dass das so lange dauert, bis sie die wieder ganzgekriegt haben. – Wenn überhaupt.
Nach einer endlos langen Zeit sind wir endlich dran. Ich erhebe mich, um zur Brillenlady zu laufen. Da kommt mir ein junger Mann in die Quere. – Will der Trottel etwa mit mir kollidieren? Scheinbar! Der hat wohl Tomaten auf den Augen, wa?!
Ich bleibe stehen, lehne mich auf die rechte Krücke, stelle die linke in seine Richtung.
Er läuft voll dagegen.
»Au!«, schreit er, »Kannst du nicht aufpassen?«
Ich muss mich erst mal wieder fixieren. Lasse dazu den linken Fuß nach hinten gleiten – doch dann stützt mich schon Manolo. Sofort ist wieder der junge Mann mein Zielpunkt: »Nee, kannichni! Aer wie siehsn aus, wennde mal deie Brille putzt?!«
Er will etwas entgegnen, doch die Proteste der anderen halten ihn stumm.
»Kannich jetz durch?«, tue ich superhöflich zu ihm.
Er tritt gezwungenermaßen einen Schritt zurück; ich dafür schreite zum Martyrium meiner zukünftigen Brille.
*
Zu Hause dann erzählt mir Saskia, dass meine Mutter laufend auf ihr rumhacke, sie mache nichts für mich.
»Dassoll wohln Lacher sein«, tröste ich sie. »Wer hat mir denn zumeispiel de Fingernägel verschittn, de Haare gewaschen, mich rasiert?!«
»Sie will das aber nicht einsehen!«
»Weilse doof is.«
»Genauso hetzt sie immer über den, der gerade nicht da ist. In der Woche bist du ihr Opfer, am Wochenende bin ich dran. Frag sie doch mal, was es diese Woche gab!« – Saskia weiß, dass ich mir da keine Platte mache.
Meine Mutter kommt gerade in die Stube.
»Mamuschka«, tröpfle ich ein bisschen Re-Ata – sogenannter Klebeschmalz – um sie drumrum, um danach besser zupacken zu können, »ich habe gehört, du hättst mir was zu sagn?«
Misstrauisch guckt sie um die Kurve: »Ich wüsste nicht was!«
»Letze Woche haste done Rede über mich geschwungn. Ich würd ouch gern wissn, worumsich da handelte.«
Ein vorwurfsvoller Blick wandert in Richtung meiner Schwester. Die hat sich jedoch in ihr Kreuzworträtsel verzogen und grinst vor sich hin. Und meine Mutter ist stocksauer, in höchstem Maße wütend, bläulich flimmernde Wellen fließen stockend schon über ihre kleine Stirn. Sie kann es wohl nicht leiden, wenn man auf die Schliche ihrer Hetzdemagogien kommt. Jetzt bleibt ihr aber nichts mehr anderes übrig: Sie muss mir ins Gesicht sagen, was sie ausgebrütet hat. (Premiere! Denn ich wage zu bezweifeln, dass sie das jemals tun musste!)
»Es geht um Fritz«, bringt sie zögerlich hervor. »Du bist doch genauso gegen ihn wie deine Schwester.« Und steigert sie sich mehr und mehr hinein in das Thema. »Erst wolltest du, dass ich keinen Schwarzen, sondern einen Weißen habe, jetzt habe ich einen, du bist aber wieder dagegen! Wahrscheinlich bist du der Meinung, ich sei schon zu alt dafür!«
Saskia und ich grinsen im Duett. Denn Fritz ist zwar weiß, aber die Schwarzen sind auf Garantie klüger und sauberer als er. Und was ihr Alter betrifft: Eigentlich ist man ja dazu nie zu alt und die Sache hat auch nichts mit ihrem Alter zu tun. Aber Selbsteinsicht ist bekanntlich der erste Weg zur Besserung.
»Ich hanischt gegn Fritz asich, nur scheint Waschn fürn een Femdwort zu sein.«
»Das geht dich aber nichts an!«
Nein, ich schlafe ja – zum Glück – nicht mit ihm.
Ich grinse breit und fröhlich. Plötzlich fällt mir was anderes ein: »Samal, wasisn ei-ei-ei-eigentlich mider Wohnung?«
»Ich bin nicht dazu gekommen! Und ich werde auch in der nächsten Zeit nicht dazu kommen!«
Die Angelegenheit ist zwar nicht zum Lachen, ich finde sie aber trotzdem lustig.
Vielleicht gerate ich jetzt ins Stadium des ewigen Grinsens.
»Aja, un warum ni?«
Das war das auslösende Zeichen für einen ihrer Heulkrämpfe. »Für dich muss man überall hinrennen«, kreischt sie schniefend, »zum Gericht, zur AOK, zur Kasse; irgendwann reicht es mir dann mal.«
»Du kannst dir ganz sicher sein, dassich, wenni könnte, es selbst machn würde!«
»Du kannst aber nicht, und ich mache es auch nicht mehr! Lass dir doch was einfallen, wie du es machst!«
Amen.
Aber so enttäuscht bin ich gar nicht.
Mit ihr in einem Haus zu wohnen, stelle ich mir nicht sehr amüsant vor! Ständig den Moloch ihres Daseins im Nacken … habe ich schon 21 Jahre ertragen müssen! Nein, danke!
3
Sonnabend, 19. Januar. Mittag.
In meinem Sessel, langweile mich – wie fast immer bei meiner Mutter. Und bin dabei, mich an meine neue Brille zu gewöhnen. Schweineteuer war sie, 84 DM. Allerdings habe ich jetzt den größten Durchblick seit meiner Wiedergeburt. Sie wird aber – da bin ich mir 100%-ig sicher – nicht mein Endresultat bleiben; denn ich sehe mit ihr aus wie Clown Ferdinand mit einer verkleinerten Klobrille. Stockhässlich ist sie; aber meiner Meinung nach ist das jede Brille. Und den Intelligenzverstärker, der mir noch genießbar erscheint, führten sie nicht.
Jetzt aber will ich raus an die frische Luft. Ich habe laufen gelernt, draußen ist schönes Wetter, also raus.
»Hallihallo, kommeener voneuch mit raus?« Anfragen muss man ja.
Ein von Ignoranz gekennzeichnetes Schweigen kreist durch den Raum.
»He!«, fange ich nun an, lauter zu rufen. »Ich habeuch gefagt, wer mich zu Mascha bringt! Und ich erwartne Antwort!«
Mitleidig schauen sie sich an. Saskia tanzt ein Grinsen über das Gesicht, und meine Mutter – die steht ihr in nichts nach.
Sie wollen sich wohl gegenseitig sagen: »Ach, der arme Krüppel, jetzt will er raus. Wir haben aber keine Lust, uns jetzt mit seinem Gestolper zu beschäftigen. Soll er doch bleiben, wo er ist und in seinem eigenen Saft schmoren. Der ist sowieso nicht mehr zurechnungsfähig.«
Dann bequemt sich meine Mutter dazu, mir eine Antwort zu geben: »Was willst du dort? Die kommen doch nie zu dir, also warum sollst du zu denen gehen?!«
Ich habe keine Lust, die alte Leier erneut zu servieren; stattdessen wende ich mich an Saskia.
»Nein, keine Zeit!«
»Bei mir genauso!«, fügt meine Mutter hinzu.
Eigentlich hätte ich mir das denken müssen, denn sie spielen gerade zusammen 'Mensch, ärgere dich nicht'!
»Dann machichs eben alleene!« Dies habe ich schon mehrmals gesagt, nur dass ich da noch im Rollstuhl war. Doch ernst gemeint hatte ich es immer. Und diesmal – diesmal mache ich es.
Ich schiebe mich hoch, greife mir meine Krücken, bewege mich zur Wohnungstür.