Die Chroniken von 4 City - Band 3. Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 3 - Manuel Neff


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      »Verdammt«, flucht Ice. »Isabell hat es mit der Dosis übertrieben. Ist für ihn wohl zu heftig ausgefallen. Tote Schrottsammler sind zu nichts nütze«, ergänzt er.

      »Das Mädchen«, beginnt Myo. »Du hast sie mir geschenkt.«

      »Fängst du schon wieder damit an? Du hättest besser auf sie aufpassen müssen. Jetzt ist sie Isabells Spielzeug. Ich kann da nichts machen.«

      »Doch das kannst du!«

      Ice schlägt Myo unvermittelt so hart mit der flachen Hand ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen einen der Gitterstäbe prallt und sie sich kurz benommen an diesem festhalten muss. Ihre Wange glüht und ihr Kopf wurde heftig durchgerüttelt.

      »Widersprich mir nicht! Niemals! Hast du mich verstanden?«

      Myo bewegt sich nicht. Sie schaut ihn emotionslos an. Sie versteht es immer noch perfekt, ihre wahren Emotionen im Zaum zu halten. Sie darf keine Blöße zeigen.

      »Selbstverständlich. Verzeih. Das war unüberlegt von mir.«

      »Schon gut, ich vergebe dir.«

      »Artox, kümmere dich um die Leiche«, befiehlt Ice dem muskelbepackten Kämpfer. Dem einzigen weiteren Menschen in der Sektion der Steamborgs. Artox ist Ice´ rechte Hand und anders als Myo würde er seinen Master niemals hintergehen.

      Artox schenkt Myo ein eiskaltes Lächeln und macht sich ans Werk.

      Myo zieht sich zurück, versteckt sich gekonnt und nahezu unsichtbar in den Schatten des seit zweihundert Jahren stillgelegten Gepäckfördersystems. Sie wartet und wird belohnt. Isabell kreuzt auf, um den Jungen abzuholen.

      John

      Der Verlust der Lebensfreude. Die energetische und emotionale Austrocknung. Die Unfähigkeit, zärtliche Berührungen zu genießen und Intimität zuzulassen. Das alles und noch mehr, trifft auf Isabell zu.

      Die Ursache ist die Störung ihres Energiezentrums Wasser. Das zweite Chakra, das etwa eine Handbreit unter dem Bauchnabel liegt. Isabell fühlt sich unentwegt einsam und begegnet allem und jedem mit einem Gefühl der Fremdheit. Sie fühlt sich seit ihrer Kindheit, seitdem sie von ihren Eltern weggeschmissen wurde, vom Leben abgeschnitten und nicht selten ist sie von extremen Stimmungsschwankungen und Eifersucht geplagt.

      Letzte Überreste ihres Gewissens fragen sich, wie es dazu kommen konnte und warum sie nicht einfach mit dem Töten aufhören kann. Ein psychologisches Gutachten würde vermutlich viele Gründe dafür finden, warum Isabell zum Monster wurde. Ohne Mutter und ohne Vater wuchs sie in der Sektion der Steamborgs auf. Ihr Spielplatz waren die alten Gewölbekeller und Tunnel unter dem Flughafengelände, dort wo sich heute ihre Werkstatt befindet. Ihre Puppen waren die Steamborgs und ihr Spielzeug waren die Kinder. Ice hat sie ihr geschenkt, damit sie nicht so alleine ist. Isabell hat er nie gefragt, warum diese Kinder nie mehr das Tageslicht erblickt haben. Isabells einziger Bezug zu einem Erwachsenen waren Artox und Ice. Ice, der Mann, der kaum Gefühle zu zeigen in der Lage ist. Bei Isabell hat er da keine Ausnahme gemacht, auch wenn er sie wie seine eigene Tochter aufgezogen hat und sie später als junge, heranwachsende Frau zur Geliebten nahm.

      Isabell kam schon mit ihrer außergewöhnlichen Gabe zur Welt. Besser als jede andere hat sie den Æther, die Emotionen und deren Beziehung zur menschlichen Seele ergründet. Nicht theoretisch, sondern experimentell. Als sie ihren ersten Mord begangen hat, war sie selbst erst vierzehn Jahre alt. Seitdem hat sie ihre Fähigkeit perfektioniert und eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse ist: Je mehr Emotionen im Spiel sind, desto größer ist der Ertrag an Ektoplasma.

      Was wäre aus Isabell geworden, wenn sie unter normalen Umständen aufgewachsen wäre? Wäre sie dann ein besserer Mensch? Ein guter Mensch? Vielleicht ja. Unter Umständen aber auch nicht. Was ist die Definition von Gut und Böse? Kommt es nicht immer auf den Blickwinkel des Betrachters an? An dieser Stelle endet für gewöhnlich die Debatte in ihrem Kopf und jedes Mal zieht die gleiche Seite ihres Gewissens den Kürzeren.

      Die unterirdisch gelegene Werkstatt ist durch Æther-Röhren erhellt. Es gibt natürlich keine Fenster und der einzige Fluchtweg ist die feuerfeste Stahltür auf der rechten Seite. Auf Tischen stehen unzählige Petrischalen, Messzylinder und Mörser. Requisiten wie in einem gut ausgestatteten Chemielabor.

      Die ganzen Hilfsmittel perfektionieren lediglich Isabells Begabung. Æther lässt sich auf unterschiedlichste Arten in nutzbare Energie umwandeln. In den meisten Fällen entsteht dabei jede Menge Wasserdampf. Nicht bei Isabells Verfahren. Æther befindet sich überall im Universum, aber Isabell geht es einzig und allein um die reinste Form dieser unerschöpflichen Energiequelle, welche nur in Menschen und in besonders hoher Konzentration bei Kindern vorhanden ist. Das liegt an den Gefühlen, weiß sie und viele Emotionen bedeuten eine gute Ernte, wiederholt sie in Gedanken.

      Isabell erinnert sich an die Ereignisse in der Abteilung 3, so als wären die Eindrücke als farbige Bilder in ihre Haut geritzt. Sie war dort, war als Schrottsammler getarnt, so wie sie es immer tut, um die Feinde mit ihrem Gift zu betäuben. Doch in der Abteilung 3 ist sie auf keine Schrottsammler gestoßen, sondern auf eine Synthetik. Ikumi, erinnert sich Isabell, mit dem Anflug eines Lächelns an ihren Namen. Die Emotionen waren bei ihr besonders hoch konzentriert. Noch nie hatte Isabell jemand mit so vielen Gefühlen erlebt und so war auch der Æther in ihr in außerordentlichem Maße angereichert. Aber es war keine Angst, sondern eine Emotion, die Isabell nicht verstanden hat. Trotzdem hat sie ihr den Kopf eingeschlagen und den Æther abgemolken, was selbstverständlich den Tod der Synthetik zur Folge hatte. Sie hat anschließend einige Vorkehrungen getroffen, damit es so aussieht, als hätten sich Schrottsammler an ihr vergriffen. Das diente dazu, ihre Anwesenheit in der Abteilung 3 zu vertuschen. Isabell will die Geheimnisse der Synthetiks ergründen, aber zunächst muss sie das hier erledigen.

      Sie spielt mit dem leeren Fläschchen zwischen ihren weißen, marmorglatten Fingern. Gleich wird es bis zur Hälfte mit reinstem, goldenen Ektoplasma gefüllt sein.

      Ektoplasma ist eine faszinierende Erscheinung. Es bildet eine Brücke zwischen dem Æther und der Materie. Durch welchen Vorgang es gebildet wird, ist Isabell bekannt. Es ist ein alchemistischer Prozess, bei dem der Æther verdichtet und materialisiert wird. Ist es besonders rein, dann schimmert das Ektoplasma golden bis weißgolden mit einer Spur Silber darin. Sein Geschmack ist angenehm süß wie Blütennektar. Und neben seiner Eigenschaften als Energie- und Nahrungsquelle beschwört er beim Verzehr ekstatische Zustände herauf und setzt außerordentliche Selbstheilungskräfte in Gang. Isabell ist süchtig danach.

      »Hast du Angst?«

      Die Frage gilt dem Neuankömmling, dem kleinen Jungen, der in Isabells Werkstatt auf einem metallenen Stuhl mit Lederriemen festgeschnallt ist. Er ist schmutzig und was einmal seine Kleidung war, hängt nun in Fetzen an ihm herab. Das Kind besteht im Grunde nur aus Haut und Knochen und starrt Isabell aus kleinen, ängstlichen Augen an.

      »Falls du keine Angst hättest, dann wärst du ganz schön dumm. So dumm wie das Mädchen hier.« Der Junge gibt keinen Mucks von sich. Sein Brustkorb hebt und senkt sich verdammt schnell, was entweder an der Todesangst oder den aufputschenden Medikamenten liegt, welche ihm Isabell in seinen dünnen Unterarm gespritzt hat. Seine Augen wurden dadurch so schwarz, dass es aussieht, als hätte er keine Pupillen mehr.

      »Wie ist dein Name? Willst du mir den verraten?«, fragt Isabell.

      Der Junge fürchtet sich zu Tode und bekommt keinen Ton heraus. »Weißt du was, ich habe eine prima Idee. Ich nenne dich einfach John. Was hältst du davon, John?«

      Isabell schreibt, ohne weiter auf eine Reaktion zu warten, John auf ein Etikett und darunter ein paar Zahlen. Ihre Zungenspitze schiebt sie dabei in den linken Mundwinkel.

      »So, dann werde ich dich mal abmelken. Es wird weh tun. Verdammt schlimm sein, um genau zu sein. Die meisten schreien dabei sehr, sehr laut. Aber das ist kein Grund zur Sorge, denn hier unten kann dich niemand hören.« John schaut zähneklappernd


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