Unternehmen Stunde Null. Thomas Pfanner

Unternehmen Stunde Null - Thomas Pfanner


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sah, was kommen würde und vermochte es nicht zu verhindern. An der anderen Seite kauerte ein Schüler, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Er starrte unverwandt und mit weit aufgerissenen Augen den Mann mit der Pistole an, während die Kugel auf ihn zu raste. Johenn wußte, sie würde treffen und das tat sie auch.

      Die Sekunde endete. Ein einziger Gedanke füllte sein Denken aus wie mit dem Vorschlaghammer eingeprügelt. Melissa! Seine Tochter war da oben im zweiten Stock. Er traf die notwendige Entscheidung, sie war zwingend. Bereits vor dreizehn Jahren hatte er an ihrem Bett gestanden und sich geschworen, mit seinem Leben für ihres einzustehen. Er vergaß nie etwas, Situationen wurden stets mit den damals gelebten Emotionen gespeichert. In einer stillen Ecke seines Bewußtseins gab es keinen Zweifel an der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens, doch das interessierte jetzt nicht. Er würde sein ganzes restliches Leben in der Psychiatrie zubringen mit der täglichen Erinnerung seines maximalen Versagens. Hier zu stehen und zuzulassen, daß seine Tochter getötet wurde, das ging nicht. Unmöglich. Nicht bei seinen Möglichkeiten. Das größte Risiko einzugehen war besser als die schändliche Untätigkeit.

      Johenn hatte sich entschieden, die Starre löste sich, die Gedanken entwickelten sich in nie dagewesener Rasanz, der erste Schritt brachte ihm sogleich die Möglichkeit der ersten Tat. Der Unbekannte konzentrierte sich auf die Schüler um ihn herum und ganz offensichtlich wählte er die leichteren Ziele aus, in dem er den Flüchtenden keine Beachtung schenkte, sondern sorgfältig zielend die bewegungslos erstarrten Jugendlichen zu töten trachtete. Die Toilette übersah er oder hielt den Ort für nicht relevant, ein schwer wiegender Fehler. Sein letzter Fehler. Johenn spürte die wohltuende Schärfe seiner aufflammenden Wut, die ihm alle Skrupel nahm, gleichzeitig die Fähigkeit zu klarer Planung unangetastet ließ. Er sah das Messer in der Scheide, verband die Fülle nie vergessener Informationen mit den realen Übungseinheiten und griff danach. Alles mußte schnell gehen und es ging schnell. Der Mann gewahrte den rasch auf ihn zu eilenden Schatten, die Pistolenhand begann zu schwenken, doch es war zu spät. Johenn ergriff das Messer im ersten Versuch, riß es heraus, schnell, aber nicht übermäßig heftig, um keine Zeit zu vergeuden. Unmittelbar nach der vollständigen Befreiung der Klinge aus der Scheide stieß er in Gegenrichtung zu, nun mit aller Macht. Der Mann kam ihm entgegen, im wahrsten Sinne des Wortes. Indem er sich zu ihm hin drehte, offenbarte er seinen Hals. Die Klinge fuhr in die rechte Halsschlagader, es war ganz leicht, kein Widerstand zu spüren. Fast ganz versenkt, hielt die Klinge abrupt inne, von einem scharrenden Knirschen begleitet. Die Wirbel waren erreicht. Der Mann riß Augen und Mund auf, gleichzeitig öffnete sich die Hand und die Pistole begann ihren Weg zum Boden. Ein weiterer Erinnerungssplitter blitzte in Johenns Kopf auf, weshalb er nicht versuchte, die Wirbel mit einer verstärkten Anstrengung zu durchtrennen, statt dessen drehte er die Klinge und zog sich sogleich heraus, bereit für einen neuen Stoß. Der wurde nicht mehr benötigt. Der Mann starrte ihn einen Augenblick lang an, dann sackte er einfach weg wie eine Leiche, die den Trägern aus der Hand geglitten war. Genau das war er, eine Leiche. Obwohl bereits tot, pulste das Blut aus der eröffneten Schlagader und besudelte Johenns Hosenbeine. Es gab wichtigere Probleme. Johenn sprang weg, tauchte nach unten und versuchte, die über den Boden tanzende Glock zu fassen. Er fühlte sich sicher, er kannte die drei Sicherungsmechanismen der Waffe, durch die bei einem Aufprall auf den Boden die Abgabe eines Schusses verhindert wurde. Im dritten Versuch bekam er die Pistole zu fassen, richtete sie von sich weg, hektisch nach einem möglichen Ziel suchend, gleichzeitig das Magazin herausnehmend und die Zahl der verbliebenen Patronen abschätzend. Alles ging ganz schnell und sicher, hätte sein Gehirn genug Rechenleistung übrig gehabt, wäre Raum für angemessenes Staunen geblieben. Johenn stand jedoch unter Druck, dem stärksten Druck seines Lebens, die Ohren meldeten gerade weitere Schüsse in den oberen Etagen. Ob das allgemeine Geschrei in diesem Augenblick begann, oder erst jetzt von ihm wahrgenommen wurde, blieb auf immer ein Rätsel. Ohne zu zweifeln stand für ihn fest, daß es mit dem einen Angreifer nicht getan sein würde.

      Johenn wandte dich dem Toten zu, der unverändert blutete, ein wahrer See aus Blut hüllte ihn ein. Wie erhofft gehörte der Mann zu der Sorte von Angreifern, die nie genug Munition dabei haben konnten. In aller Hast riß Johenn fünf Magazine an sich, verstaute sie in verschiedenen Taschen, während er bereits losrannte. An der Tür kam ihm ein erster Pulk flüchtender Kinder entgegen. Entsetzt prallten sie vor ihm zurück. Er verschwendete keinen Gedanken an den Umstand, blutverschmiert zu sein und mit einer Pistole auf die Kinder zuzustürmen, nahm nur dankend die entstehende Lücke wahr und stürmte hindurch. Drei Stufen gleichzeitig nehmend schaffte er es sehr schnell, das erste Stockwerk zu erreichen, doch kam es ihm bei weitem nicht schnell genug vor. Im Hinterkopf zählte er die Schüsse mit, die von dieser Etage zu ihm drangen, zu viele, viel zu viele. Wieder ein Pulk Kinder, ältere diesmal. Sie schrieen, sahen ihn, schrien noch lauter und versuchten, vor ihm zu flüchten, zurück in die Gefahr. Das durfte nicht passieren, ein Geistesblitz durchfuhr ihn und er brüllte so laut wie möglich: »Deutsche Infanterie! Raus hier, sofort!«

      Er schrie es einige Male, bis die Kinder die Worte begriffen. Endgültig verstanden sie es in den folgenden Sekunden.

      Zwei hochgewachsene Gestalten kamen eilig aus einem Klassenzimmer, etwa zwanzig Meter entfernt. Der Flur war an dieser Stelle sehr breit, öffnete sich zu einem kleinen Saal, der Anschluß an den nächsten Flur gewährte. Diese Seite konnte Johenn nicht einsehen, immerhin sah er genug, um zu erkennen, daß die beiden jemanden in diesem Saal unter Feuer nehmen wollten. Beide hielten Pistolen am ausgestreckten Arm, ignorierten selbst die auf dem Boden kauernden Schüler direkt an der Wand. Sie übersahen zudem Johenn, der heranstürmte und den Zeigefinger so schnell und so oft betätigte wie nur möglich. Bei der Glock handelte es sich um eine Waffe, die im wahrsten Sinne des Wortes narrensicher war. Keine umständliche Handhabung, kein Hahn, der verlangte gezogen zu werden, kein übermäßiger Rückschlag. Johenn begann auf die Bauchregion zu zielen, nach mehreren Schüssen lagen die Treffer durch das Hochrucken nach jedem Schuß deutlich höher. Ohne Gefühle beobachtete er die beiden Männer, während sie unter den Treffern ihr tödliches Ballett aufführten und schließlich zu Boden fielen.

      Johenn schaute nicht nach rechts und nicht nach links, ließ sich von nur zwei Dingen leiten. Das eine waren seine Ohren, die aufgrund des Lärms auf Entfernung und Anzahl der verbliebenen Angreifer schloß. Das andere die immer dringendere Angst um Melissa. Er mußte in den zweiten Stock, auf der Stelle, egal, was sich ihm in den Weg stellte. Kurz musterte er die beiden Leichen auf der Suche nach Brauchbarem und nahm schließlich einen stummelläufigen Trommelrevolver an sich. Kein ausdrücklicher Gedanke befaßte sich mit seiner Handlung, rein aus dem Bauch heraus empfand er es als notwendig, den Revolver zu nehmen. Die Handgranaten ließ er am Gürtel des einen Mannes, ebenso die Pistolen. So schnell wie möglich rannte er zurück zum Treppenhaus. Die Tür stand offen, dumpf hörte er Schüsse, von infernalischem Geschrei fast völlig übertönt. Sein Gehirn setzte die verschiedenen Geräusche zusammen und gab ihm eine vegetative Warnung in Form eines eiskalten Prickelns im Nacken.

      Während der ganzen Aktion von ihrem überraschenden Beginn bis zu diesem Moment hatte Johenn buchstäblich nichts gefühlt außer Angst und Wut. Nach all den langen Jahren, in denen er sein cholerisches Gemüt durch konzentrierte Wachsamkeit und selbst auferlegte Disziplin in Schach gehalten hatte, stürmte die so lange unterdrückte Wut zum Gipfel hoch, wurde zu einer Art Blutrausch, der wiederum die Angst zurückdrängte und handhabbar machte. Das Aufflammen existentieller Todesangst überraschte ihn so sehr, daß keine Zeit blieb zum Nachdenken. In einem Auge erschien eine Draufsicht des Treppenhauses und ein Bild von ihm, wie er gerade das tat, was er gleich tun würde. Das Bild verschwand wieder, ein Geist, der keine halbe Sekunde gebraucht hatte, um seine Botschaft zu überbringen.

      Johenn vollführte in vollem Lauf einen Hechtsprung und landete schmerzhaft auf dem Bauch. Die glatten Steinfliesen verhielten sich höchst unfreundlich zu seinen Ellbogen und Kniegelenken, der geringe Reibwert des Untergrundes erwies sich jedoch wie erhofft als ganz vorteilhaft. Johenn rutschte durch die Tür ins Treppenhaus hinaus. Ohne hinzusehen feuerte er drei Schuß die Treppe hinauf, ein wilder Schrei war seine Belohnung.

      Der Weg nach oben war frei. Drei Stufen auf einmal nehmend stürmte er hinauf, keinen Blick auf den Mann verschwendend, dessen Hinterkopf sich in kleine Bestandteile zerlegt hatte und einen Abschnitt der Wand besudelte. Er bog um die Ecke, durchschritt die offene Glastür und er erkannte,


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