Totenwache. Tonda Knorr
muss noch mal los, was zu essen holen.“ Sarah sprang auf.
„Kann ich heute hier bleiben? Ich hab keinen Bock, wieder nach Berlin zu fahren.“
„Du kannst immer hier bleiben. Hier ist genug …“ Sarah verstummte, da ihr einfiel, dass im Moment überhaupt noch nicht genug Platz war.
„Wie bist du eigentlich hergekommen?“
„Mit’m Chopper.“
„Der war noch da?“
„Klar, stand im Schuppen. Ging auch noch.“
Sarah verdrehte die Augen. Sie wusste, wie sehr Tim an dem Motorrad hing. Jedes Mal, wenn er wieder in die Welt hinauszog, überlegte er, ob er das Ding mitnehmen sollte. Meistens, oder eigentlich immer, ließ er es dann aber im Schuppen stehen, umarmte die Sitzbank und grinste Sarah mit den Worten an: „Damit ich mindestens zwei Gründe habe, zurückzukommen.“
„Wird aber nicht bequem. Ich bin mit dem Einräumen noch nicht fertig.“
Sarah war erstaunt über sich. Vor ein paar Tagen war ihr noch alles egal gewesen, und heute entschuldigte sie sich dafür, noch nicht fertig eingezogen zu sein. Zwangsläufig fiel ihr auch wieder die Treppe ein, deren Reparatur ihr seit Tagen wichtig war. Sie beobachtete Tim, wie er mit den Händen in den Gesäßtaschen vor der Scheune stand und diese musterte.
„Hier wird doch auf alle Fälle Platz sein.“
„Spinnst du?“
Tim zog einen Schmollmund. „Wieso?“
„Ich weiß ja nicht, wie das in Australien ist, aber hier bei uns bedeutet so ein rotes Absperrband immer noch, dass der kleine Tim dahinter nichts zu suchen hat. Außerdem, wer weiß, was in der Scheune noch alles vergraben ist“, gab Sarah zu bedenken.
„Und verrammelt ist das Tor auch, so als ob da schon hundert Jahre keiner mehr drin gewesen wäre“, stellte Tim fest.
Während Sarah Tims Worten lauschte, ging ihr Blick langsam zu dem Scheunentor. Tim hatte recht. An dem alten Holz gab es weder eine Klinke noch irgendetwas anderes zum Öffnen des Tores. Ganz im Gegenteil, an der Stelle, wo die Flügel aufeinander trafen, konnte man bei genauerem Hinsehen ohne viel handwerklichen Verstand erkennen, dass das Tor mit Metallstiften verbarrikadiert worden war. Sarah fiel sofort wieder der Metallstift in dem gefundenen Knochen ein.
„Du bist doch die Polizei. Lass uns nachschauen und das Tor aufmachen“, riss Tim Sarah aus ihren Gedanken. Sarah blickte in seine funkelnden Augen und sagte deutlich: „Ich bin nicht mehr bei der Polizei, schon vergessen?“
„Na dann eben hier.“ Tim zeigte auf das Gebäude gegenüber, vermutlich ein ehemaliger Stall. Neugierig machte Sarah große Augen und ging ein paar Schritte zur Seite.
„Keine Ahnung. Ich habe mich hier überhaupt noch nicht umgesehen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht mal, wie die obere Etage von dem Haus aussieht. Die Scheißtreppe ist im Arsch. Es kotzt mich an. Irgendwie komm ich überhaupt nicht in die Puschen.“
„Na dann komm.“
Tim ging langsam auf eine der Holztüren zu. Die Türen und Fenster des Stalles waren zwar alt und verwittert, schienen aber alle noch intakt zu sein. Die ganze Wand war mit wildem Wein behangen, den Tim, um an die Türklinke zu kommen, bei Seite schob. Die Tür ließ sich schwer öffnen. Tim und Sarah wurden vom Duft des Heus empfangen.
„Also Viecher waren hier schon lange nicht mehr drin“, stellte Tim fest.
„Woher willst‘n das wissen?“, fragte Sarah.
„Ein Vieh ist ein Vieh. Die stinken alle gleich, egal ob in Europa oder in Australien. Und wie ein Stall mit Viechern riecht, weiß ich auch. Glaub mir, hier war schon ewig kein Vieh mehr drin.“
Durch die helle Nachmittagssonne drang trotz der verschlierten Scheiben genug Licht ins Innere. Man konnte noch genau die Mauern der alten Pferde- oder Rinderboxen sehen. Hier und da stand noch ein altes Gerät. Sarahs Blick fiel auf eine Heuforke. Forschend hielt sie die Forke hoch. Tim ging einen Schritt auf Sarah zu. Er beobachtete, wie sie die Forke musterte.
„Na, alle Zinken dran?“
Sarah nickte und schmiss die Forke wieder in die Ecke. Auffallend war, dass alles, was hier herumstand, gut erhalten war, kaum benutzt aussah und selbst die Wände, trotz des Staubes und der Spinnweben, einen relativ guten Eindruck machten.
„Weißt du, ob hier einer gewohnt oder gelebt hat?“, fragte Tim.
„Der Kerl vom Bauamt hat nur gesagt, dass das Gehöft fast hundert Jahre alt ist.“
„Interessiert dich das nicht?“
„Was?“
„Die Geschichte von dem Anwesen.“
„Tim, bis vor kurzem hat mich nicht mal interessiert, ob die Sonne morgens aufgeht.“ Entschlossen stemmte Sarah die Arme in ihre Hüften.
„Und? Ist das jetzt anders?“, fragte Tim vorsichtig weiter.
Sarahs Aufmerksamkeit galt aber dem durch das verstaubte Fenster fallenden Lichtkegel. Sie verfolgte das Flimmern der klitzekleinen Heuteilchen und überlegte.
„Hm, ich weiß noch nicht“, gab sie dann zur Antwort.
„Das ist doch immerhin schon mal ein Anfang. Besser als nein.“ Während Tim redete, ging er weiter durch den Stall. Sein T-Shirt zeigte erste Schweißflecke. Man kam sich vor wie in einem Gewächshaus. Die Sonne staute sich tagsüber in dem alten Gemäuer.
„Ich lass einfach die Fenster auf, und dann geht das schon“, beschloss Tim.
„Hast du ne Meise?“ Sarah klatschte Tim mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Du schläfst gefälligst bei mir auf der Couch. Früher haben wir …“ Tim fiel ihr ins Wort:
„Danke, danke, danke!“ Er stürmte auf sie zu und umarmte sie.
„Du hast mich verarscht?“
„Ich kann kein Heu und keinen Stall mehr sehen“, gab er zu. „In Australien habe ich fast nur darin gepennt.“
Sarah löste sich aus der Umarmung und schaute Tim erstaunt an. „Nicht, dass du jetzt‘n Stino wirst?“
Tim dachte kurz nach.
„Doch, ich glaube schon. Ich habe ja ein abgeschlossenes Studium, damit kann ich dann bei Herbert in der Firma anfangen.“
„Was?“ Sarah erschrak, bemerkte dann aber das verschmitzte Grinsen in Tims Augen.
„Pass mal auf, Freundchen, vergiss nicht, dass ich bei der Polizei war.“ Sie schnappte sich Tim und ließ ihn mit zwei drei Handgriffen gekonnt ins Heu fliegen.
„Komm, lass uns gehen.“
Sarah ging noch mal kurz ins Haus, um ihre Jacke und ihre Tasche zu holen. Tim schlenderte derweil über die Wiese oder was davon noch übrig war, nachdem das Land von Gustav mit seiner Raupe bearbeitet worden war.
„Wolltest du nicht noch zu Gustav?“, fragte Sarah.
„Später.“ Tims Blick schweifte über die Felder. Die Sonne neigte sich langsam, sodass der Horizont einen zarten orange-roten Schimmer bekam. Sarah kam an seine Seite, und Tim legte seinen Arm um ihre Schultern. Sarah strahlte und genoss Tims ganz eigenen Geruch, den sie so lange vermisst hatte. Unweigerlich überkam sie wieder der Gedanke an den Geruch von Frank Wagner, als er sich heute Vormittag gewandt an ihr vorbei bewegt hatte, ohne sie zu bedrängen.
„Ich liebe dich“, sagte Sarah glücklich.
„Und ich dich erst“, erwiderte Tim.
Beide schlenderten eng umschlungen langsam zum Auto. Tim wunderte sich von Schritt zu Schritt mehr, dass Sarah ihn bis zur Beifahrertür begleitete.
„Mann, was ist bloß aus dem Land geworden?“
„Wieso?“