Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern
mit starkem UKW-Teil. 1000 Ostmark gab sie dafür aus. Hört Radio Basel, Radio London und ganz besonders gern die Sendungen von Austen Harrison. Es zieht sie in dieses Auslandsbüro. Sie betritt eine Eingangshalle mit Säulen, Marmor im Aufgang. Geht eine Treppe hinauf. Ich möchte gern mit jemandem reden, sagt sie. Sagt es, als arbeiteten nicht an die Dutzende Geheimdienste in der Stadt, deren Geschäft es ist, Leute zum Reden zu bringen. Eine Dame verweist sie an einen jungen Journalisten. Aja, aha, sagt er. Was? Und Sie hören immer die Sendungen mit Austen Harrison! Da haben Sie aber großes Glück! Warten Sie mal einen Moment! Der junge Journalist geht nach nebenan, erscheint gleich danach mit einem großgewachsenen Herrn: Austen Harrison! Susanne reißt es vor Freude vom Sessel. Die beiden Herren unterhalten sich mit Susanne, wollen von ihrem Leben drüben wissen. Haben Sie auch Halbstarke?, fragt Austen Harrison. Nee, sagt Susanne. In dem Sinn, in dem Sie's verstehen, nicht. Also, Langeweile gibt's wohl. Die gibt's zur Genüge. Aber schon, wenn sich ein Trüppchen am Bahnhof bildet, ist die Polizei da. Gruppen- oder Cliquenbildung heißt es. So was will man bei uns nicht. Alles könnten die beiden Herren fragen. Susanne würde Ihnen treulich antworten. Sie erzählt, sie wolle zum "Ausschuss freiheitlicher Juristen" gehen, um wegen ihres Vaters etwas zu erfahren.
Zehn Jahre ist es her, dass jener Gutsbesitzer aus einem Dorf bei Oederan kam, ein Mithäftling des Vaters, um von dessen Tod zu berichten. Selbst vom nahen Tod gezeichnet, achtete er nicht die Schweigepflicht. Aber eine amtliche Bestätigung hat die Mutter nie erhalten. Susanne will nicht mehr wahrhaben, was der Gutsbesitzer sagte. Es ist so lange her. Vielleicht macht dieses Westberlin sie auch träumen. Alles ist hier anders, alles scheint möglich. Vielleicht leiten Nachforschungen die Auferstehung des Vaters ein. Austen Harrison geht. Der junge Journalist sieht Susanne eine Weile freundlich an. Dann sagt er: Oh, ich würde Ihnen nicht empfehlen, zu diesem Ausschuss zu gehen.
Wieso nicht?, fragt Susanne verdutzt.
Na ja, wissen Sie, dieser Ausschuss ist durchsetzt. Und Sie reden sehr offen. Man weiß nie, was Ihre Aussage auslöst, wo die Aussage hingelangt. Sie begeben sich ganz unnötig in Gefahr!
Susanne hat gespielt. Hat mit Gedanken gespielt. Und hat das Anfangsglück eines Spielers. Sie war hier und da. Aber den "Ausschuss freiheitlicher Juristen" meidet sie, was nach ihrer späteren Kenntnis mindestens das sichere Ende jeglichen beruflichen Fortkommens bedeutet hätte. In Wirklichkeit will sie gar nicht in den Westen. Es zieht sie auch nicht in die westliche Filmwelt. Wie viel Billigware, Ramsch wird produziert zwischen einzelnen herausragenden Filmen. Nein, sie will nicht in den Westen. Warum ner nich? Warum ner nich?, klagt die Mutter. Seitdem das mit ihrem Mann passierte, hat sie nur wenige Menschen um sich. Als ob der ganze Ort sich schäme, lässt er es die büßen, die Leidtragende sind. Und doch sind die Burkards auch wer. Geschäftsleute. Boehm & Burkard, der Name hat Klang. Susanne, von Kind an mit dem Makel behaftet, nicht richtig zu sein, erträgt die Vorstellung nicht, dass sie drüben niemand wären, Flüchtlinge aus dem Osten. Sie weiß ja von ihren Klassenkameraden, Jahre älter als sie, was es bedeutet, Flüchtlingskind zu sein. Da braucht es ein halbes Leben, ein ganzes, bis man vielleicht zwischen den Alteingesessenen Fuß fasst. Susanne hat ihre Ohren aufgesperrt bei allen Erzählungen von Weggegangenen und über Weggegangene. Mit feinen Antennen ausgestattet, hat sie Demütigungen herausgehört. Kennt die Dankbarkeit, die verlangt wird. Auch sie musste ja immer dankbar sein, verlangte der Onkel, Boehm-Otto, die Mutter, warum, wusste sie damals bloß nicht. Wer aus dem Osten kommt, ist nichts. Ob er aus dem nur ehemaligen deutschen Osten kommt oder dem Staat, der nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Deutsche Demokratische Republik ausgerufen wurde. So bleibt sie stur, wie sehr ihr die Mutter auch in den Ohren liegt.
Und dann gibt es noch mindestens einen Grund, weshalb Susanne dem Drängen der Mutter widersteht: Sie will die Wälder, Hänge, Berge, Dörfeln ihres Erzgebirges nicht missen. Hat sie sommers wie winters durchstreift. Sie hat eine Treue zu dem Landstrich, in dem sie aufwuchs. Als sei es nichts, eine Gegend, Menschen, eine Ordnung zu verlassen, dachte Susanne. Eben hat man noch die Kriegsflüchtlinge bedauert. Nun hat sich jeder zu rechtfertigen, der geblieben ist! Ihr schien, drei Jahre nach der Einheit nahmen die Absurditäten eher noch zu.
III
Es war nicht kalt, doch feucht. Susanne kam früh kaum aus ihrem Bett. Dämmerung noch, als Georg eintraf. Susanne mochte nicht reden. Auch Georg maulfaul. Nach der längsten Nacht der kürzeste Tag oder umgekehrt. Georg war mit seinem eigenen Rad gekommen, weshalb er die Besorgungen schnell erledigte. Na ja, vorm Fest sehen wir uns ja noch mal!, sagte sie.
Ein Monolog, an einen unsichtbaren Georg gerichtet, kam auch nach seinem Weggehen nicht zustande.
Doch die Erinnerungsmaschinerie, einmal in Gang gesetzt, lief: Gersdorf, ein Dorf den Berg hinab, hinauf. Hier ein Häusel, dort ein Häusel, hier ne Fabrik, da eine Fabrik und mal eine abgehende Straße in ein anderes Dorf. Auf halber Berghöhe das Gemeindeamt und das Klubhaus. Da arbeitet Susanne nun in der Gemeindebibliothek. Hat sich versetzen lassen, ist zum Volk gegangen, an die Basis, wie sie Arthur Brauner voraussagte. Ist nun auch der Mutter ein Stück weit entkommen. Bewohnt ein Zimmer bei einem alten Lehrerehepaar. Oberlehrer Schulz und seine Frau nehmen sie an Tochter statt auf. Die Gemeindebibliothek hat einen Bestand von 3000 Exemplaren. Es wird dazugekauft, ausgeliehen vom Kohleschacht oben in Oelsnitz. Die Gewerkschaftsbibliothek dort hat eigene Mittel, ist besser bestückt. Adolf Hennecke, jener, der die Schicht fuhr, in der er alle Normen brach, arbeitet in Oelsnitz. Man hatte sich ihn ausgeguckt von oben. Das kennt man nachher schon. Adolf Hennecke bis in letzte DDR-Zeiten ein Synonym für jene Zeit der ersten Aktivisten, in der der Aufbau mit allen Mitteln betrieben wird. Initiativen wie "Max braucht Wasser", in der Jugendliche mit Mut das Stahlwerk Unterwellenborn aufbauen, werden ins Leben gerufen. Andere, immer neue Namen von Aktivisten, später auch Neuerer genannt, in der Reihe nach Adolf Hennecke. Ein Name fiel Susanne ein. Der fiel jedem ein, der mit der Zeit vertraut war, denn allein der Name machte lachen: Frida Hockauf "Straßen der Besten" mit Fotos an den Flurwänden oder Plakaten an der Werkstraße gab es in späterer Zeit. Susanne also leiht Bücher von jener Oelsnitzer Gewerkschaftsbibliothek wie andere Gemeindebibliotheken auch. Sie kennt dann schon Geschmack und Wünsche der Dorfbewohner. Einem ist es nur darum zu tun, dass die Bücher dick sind. Von Liebe soll es handeln, verlangen die meisten.
"Warte auf mich", sagt Antonio. - "Ich warte auf dich ... Und wenn ich darüber auch weiße Haare kriege und alt und blind werde. Wenn ich inzwischen einen anderen ansehen sollte, dann sprenge ich mich, meinen Vater, meinen Bruder und die ganze Gegend in die Luft." - "Na, das wird ein schönes Feuerwerk."
Die Arbeiter vom Oelsnitzer Kohleschacht besuchen statt der Bibliothek im Schacht Susanne im Klubhaus. Seit man weiß, Susanne kann Klavier spielen, ist sie noch beliebter. Im Saal des Gemeinde-Klubhauses steht ein schöner Flügel. Susannes wegen wird er gestimmt. Susanne spielt den Straßenbauern auf, den Brauereiarbeitern, den Arbeitern vom Kohleschacht, von der Nickelhitt in St. Egidien, Sankt Ekidschen in hiesiger Redeweise, von der Wismut. Moderne Schlager, alte Kamellen spielt Susanne. Ein, zwei Flaschen feinster Deputatschnaps, den die Leute von der Wismut zum Lohn dazubekommen, auf Talons, in Magazinen der Wismut einzutauschen, stehen immer auf dem Tisch. Die Wismut-Arbeiter deshalb beneidet, die Talons als Tauschobjekt begehrt. Die Wismut die sowjetische Fördergesellschaft für Uran, was man leider hier nun auch findet zu Kohle und Nickel und früher Silber dazu. Susanne muss mittrinken. Kriegt Bockwurst spendiert. Doch das Mittagessen in der Brauerei schon zu gut, zu reichlich, vier grüne Klöße auf einem Teller! Lieber Zigaretten!, verlangt Susanne. Sind Frauen dabei, wird getanzt, geschwooft. Man prostet Susanne zu. Die Beine weich, als sie die Straße hoch will. Die Arbeiter torkeln nicht minder. Oberlehrer Schulz ist auf der Wacht, wenn Susanne abends im Klubhaus aufspielt. Wartet, und wenn sie gar nicht kommt, macht er sich mit dem Handwagen auf den Weg, geht die Straße hinunter.
Susanne klammert sich an den Wagen oder lässt sich ganz fallen, der alte Mann zieht sie den langen Berg hinauf, holt sie heim. Oh, oh, Fräulein Burkard, sagt er am nächsten Morgen. Das dürfen Sie nicht machen. Machen Sie das um Himmels willen nicht! Mit ihren zarten Nerven. Und Sie rauchen zu viel, Fräulein Burkard, wie viel rauchen Sie denn? 20 Zigaretten sind es zu jener Zeit schon. Die Frau des Oberlehrers Schulz, eine weißhaarige kleine Dame, sieht