Vier Jahre für Lincoln. Stillwell Leander

Vier Jahre für Lincoln - Stillwell Leander


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Feld in seiner Gesamtheit ab, als die Toten noch nicht begraben waren. Es ist die reine Wahrheit, wenn ich sage, dass der Boden förmlich mit gefallenen Konföderierten bedeckt war und dass man das gesamte Feld auf ihren Körpern hätte überqueren können, ohne dabei die Erde zu berühren. General Grant war in seinen Memoiren der gleichen Überzeugung. Es war ein furchtbarer Anblick, doch etwas westlich, unweit der "Pfirsichplantage", gab es eine noch grausigere Szenerie zu sehen. Dort hatten einige unserer Truppen eine Linie entlang eines alten, grasüberwachsenen Feldweges gehalten, der sich durch einen dichten Wald schlängelte. Die Räder all der Wagen, die hier seit etlichen Jahren in der gleichen Spur gefahren waren, hatten einen Hohlweg in die Erde gegraben, der um einiges tiefer lag als das umliegende Gelände. Einem knienden Schützen bot sich somit eine natürliche Brustwehr, die zwar verhältnismäßig flach war, aber trotzdem beträchtlichen Schutz bot. Vor dieser Stellung befanden sich neben den großen Bäumen auch dichtes Gehölz, Pfahleichen und dergleichen, die allesamt noch ihre Blätter trugen. Zudem war der Boden mit trockenem Laub bedeckt. An dieser Stelle fanden erbitterte Kämpfe statt, in deren Verlauf explodierende Granaten das Gehölz in Brand setzten. Die Kleidung der auf der Erde liegenden toten Konföderierten fing Feuer und ihre Leichname verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Ich habe irgendwo gelesen, dass auch einige Verwundete verbrannt sein sollen, aber das bezweifele ich. Ich ging das Gelände ab und besah mir diese armen Burschen, wobei ich gründlich nach ihrer jeweiligen Todesursache Ausschau hielt. Sie hatten Schussverletzungen erlitten, welche sie offensichtlich sofort oder nach nur wenigen Sekunden getötet haben mussten. Wie dem auch sei, der Anblick erschütterte mich bis ins Mark. Ich werde hier keine Einzelheiten nennen, diese werden deiner Vorstellungskraft überlassen bleiben müssen.

      An einer anderen Stelle auf dem Schlachtfeld sah ich die Leichen zweier konföderierter Soldaten, die ich ebenfalls niemals vergessen werde. Sie veranschaulichten die äußerst unterschiedlichen Umstände, unter welchen man in der Schlacht sterben konnte. Der eine war ein erwachsener Mann von wohl etwa 30 Jahren mit rötlichgelbem Haar und einem struppigen Bart und Schnurrbart in der gleichen Farbe. Er hatte von einer Position hinter einem Baumstamm aus geschossen und als er einmal seinen Kopf dahinter hervorstreckte, traf ihn eine Musketenkugel mittig in die Stirn. Er musste sofort tot gewesen sein und sackte in eine kauernde Haltung hinter seinem Baum zusammen. Als ihn der Tod ereilte, biss er gerade eine Patrone auf. Der Papierfetzten stak noch zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen, während seine rechte Hand die übrige Papierhülse umklammert hielt. Seine Zähne waren lang, schief und von Kautabak verfärbt. Wie bereits erwähnt, musste er sofort tot gewesen sein. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick trug noch immer den Ausdruck dämonischen Hasses. Da sein Übergang vom Leben in den Tod so unvermittelt geschehen war, hatten sich seinem kalten Antlitz untilgbar die rasende Wut und der Blutdurst des Kampfes eingeprägt. Der Bursche sah furchteinflößend aus und ich musste meine Augen abwenden. Der zweite Tote bot einen vollkommen anderen Anblick. Er lag bei einer sanften Anhöhe, über welche die Konföderierten gegen eine Geschützbatterie angestürmt und dabei förmlich niedergemetzelt worden waren. Er war noch ein Junge, nicht älter als 18 Jahre, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, hellbraunem Haar und blauen Augen – insgesamt ausgesprochen gutaussehend. Eine Kanonenkugel hatte ihn am rechten Bein, etwa mittig zwischen Knie und Hüfte, getroffen. Das Bein war nahezu gänzlich abgerissen und hing nur noch an einem Hautfetzen. Der Junge lag ausgestreckt auf seinem Rücken und sein rechter Arm ragte stocksteif und mit geballter Faust empor. Seine Augen standen weit offen, aber ihr Ausdruck war natürlich und friedlich. Der Schock und der rasche Blutverlust mussten ihm die Gnade eines schnellen Todes gewährt haben. Während ich mir den unglücklichen Jungen ansah, überkam mich der Gedanke daran, wie irgendwo ob der traurigen Nachricht seines verfrühten Todes einer armen Mutter schier das Herz brechen würde. Bis zum Ende des Krieges ereigneten sich tausende solcher Schicksale in den Armeen von Nord und Süd.

      Ich denke, ich sollte hier über eine von mir gehegte Überzeugung sprechen, über deren Wert du selbst befinden magst. Wie du weißt, bin ich kein religiöser Mensch im theologischen Sinne des Wortes und habe zeitlebens keiner Glaubensgemeinschaft angehört. Ich war stets bemüht, die Goldene Regel zu befolgen und habe es hierbei bewenden lassen. Seit meiner frühesten Jugend verspüre ich jedoch eine besondere Achtung vor dem Sonntag. Als kleiner Junge ging ich oft mit dem Gewehr auf die Jagd, wie es bei den Leuten in unserer Gegend allgemein üblich war. In den dichten Wäldern jenes entlegenen Landstriches war Niederwild reichlich vorhanden und selbst Hirsche waren keine Seltenheit. Um zur Sache zu kommen, bei uns ungebildeten Leuten herrschte die Überzeugung, dass ein sonntäglicher Jagdausflug nicht nur erfolglos bleiben, sondern auch für den Rest der Woche Pech bringen würde. Als nun also die Konföderierten die Schlacht an einem Sonntag eröffneten, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: "Ihr Kerle musstet die Sache ja sonntags anfangen und deswegen werdet ihr kein Glück damit haben!" Ich muss eingestehen, dass die Lage mehrfach so verzweifelt schien, dass ich den Mut verlor, aber ich fasste mir stets wieder ein Herz und letztlich wurde mein Sonntags-Aberglaube, oder wie auch immer man ihn nennen mag, gerechtfertigt. Gleich Shiloh wurden auch die Schlachten von Waterloo und Bull Run an einem Sonntag ausgefochten und in beiden Fällen wurde der Angreifer entscheidend geschlagen. Es mag dies wohl bloßer Zufall sein, aber ich glaube es nicht. In einer glaubwürdigen Quelle habe ich gelesen, dass Präsident Lincoln der gleichen Überzeugung war und sich stets gegen aggressive Manöver der Unionsarmeen an einem Sonntag aussprach.

      Zuhause kursierten indessen die wildesten Gerüchte über die Schlacht und ihren Ausgang. Ich habe in diesem Moment einen alten Brief vor mir liegen, den mir mein Vater am 19. April als Antwort auf meinen vorangegangenen Brief (von dem ich noch sprechen werde) schickte. Er hatte durch mein Schreiben die ersten verlässlichen Neuigkeiten über unser Regiment und die Jungs aus der Nachbarschaft erhalten und schrieb in seiner Antwort unter anderem: "Hier bei uns ging das Wort um, Frys Regiment sei gänzlich entweder getötet worden oder in Gefangenschaft geraten und habe praktisch aufgehört zu existieren. Außerdem sollte euch Beauregard alle über eine Klippe in den Tennessee River getrieben haben. Auch hieß es, Captain Reddish habe man den Arm abgeschossen, zudem sollten verwundet sein: Enoch Wallace …" Es folgte eine Liste von Namen, die jedoch (ebenso wie Reddish und Wallace) tatsächlich keine Schramme davongetragen hatten. Mein vorheriger, oben genannter, Brief an meinen Vater datierte vom 10. April und erreichte ihn am 18. Er war kurz, nur etwa vier jener kleinen, fleckigen Papierseiten lang, die man damals bei den Marketendern kaufen konnte. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, warum ich nicht bereits früher schrieb, aber das hing wohl damit zusammen, dass zuvor kein Postschiff von der Anlegestelle ablegte. Der kleine, alte Wagen, der die Post aus der weiten Welt nach Otter Creek brachte, erreichte das dortige Postamt für gewöhnlich etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang und an jenem Abend, als er meinen Brief beförderte, war das winzige Postamt (das zugleich auch als Kramladen fungierte) mit Leuten vollgestopft, die begierig auf Neuigkeiten von ihren Söhnen oder sonstigen Verwandten im 61st Illinois warteten. Die Verteilung der Post war damals in dieser kleinen Stube eine sehr einfache Prozedur. Der alte Postler, der sich darum kümmerte, rief mit dröhnender Stimme den Namen eines jeden Adressaten aus und wenn dieser anwesend war und "Hier!" rief, wirbelte ein geübter Schwung aus dem Handgelenk den Brief durch das Zimmer in Richtung des Empfängers, der ihn fangen musste. An jenem Tage befand sich jedoch scheinbar kein einziger Brief aus dem Regiment in der Post, bis der Postler schließlich den Namen meines Vaters ausrief: "J. O. Stillwell!" Er rief ihn noch lauter ein zweites Mal, aber es kam noch immer keine Antwort. Hierauf hielt er den Brief auf Armeslänge von sich und unterzog die Adresse einer genauen Prüfung. "Hmm" sagte er schließlich, "Der ist von Jerry Stillwells Jungen vom 61st, also gehe ich mal davon aus, dass er zumindest nicht gefallen ist." Diese Neuigkeit sorgte für aufgeregtes Raunen im Raum und die Leute drängten sich nach vorne, um einen Blick auf die Handschrift auf dem Umschlag zu werfen. "Ja, das ist die Handschrift von Jerrys Jungen, keine Frage" bestätigten mehrere. Hierauf flehten William Noble und Joseph Beeman, zwei alte Freunde meines Vaters, den Postler an, ihnen bitte den Brief auszuhändigen, sie würden ihn sofort zu den Stillwells bringen, ihn sich vorlesen lassen und dann unverzüglich mit den Neuigkeiten zurückkommen. Alle Anwesenden unterstützten diese Idee, also willigte der Postler ein und händigte den Brief aus. Die beiden Herren stürmten nach draußen, banden ihre Pferde los und galoppierten drei Kilometer zur Stillwell Farm, die auf der Südseite des Otter Creek in einer bewaldeten Gegend lag. Als sie sich dem kleinen, alten Blockhaus näherten, sahen sie meinen Vater unweit der


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