Plötzlich auf Föhr. Rainer Ballnus
mein Liebling! Mach’ es dir bequem, hörst du“, heuchelte er liebevoll, sprang von seinem Sitz hoch und rückte ihren Stuhl nach hinten, als sie aufstand.
„Übernimm dich nur nicht. Irgendwie bist du ja plötzlich so höflich. Stimmt irgendetwas nicht mit dir?“, meinte sie ironisch, aber überhaupt nicht misstrauisch. Karl lächelte fast ein wenig verlegen. Er war aber zufrieden mit diesem Dialog, holte sich aus dem Appartement Mantel und Schirm und trat auf die regennasse Straße. Auch er konnte nicht ahnen, was in den nächsten Stunden plötzlich über dieser ruhigen und beschaulichen Insel Föhr hereinbrach.
„Elke, du musst aufstehen! Du weißt, Herr Matthießen sieht es nicht gern, wenn du zu spät kommst.“
Mit einem leicht ärgerlichen Tonfall ermahnte Peter seine junge Frau.
Sie lag da im Bett auf dem Rücken und starrte gegen die Decke. Eigentlich kann sie einem leidtun, dachte er. Wahrscheinlich hatte sie wieder ihre depressive Phase. Er meinte das nicht abfällig, sondern eher etwas mitleidig. Er konnte ihr so wenig helfen.
Angefangen hatte es vor drei Jahren. Zuerst war ihr immer übel geworden, einfach nur so, ohne ersichtlichen Grund. Die Ärzte hatten sie auf den Kopf gestellt, aber keinen organischen Befund erheben können.
Wahrscheinlich eine vegetative Dystonie, lautete die lapidare Diagnose. Sie sollte es einmal mit dem Autogenen Training versuchen, hieß der ärztliche Ratschlag. Damit kam sie nun gar nicht zurecht. Im Gegenteil, zu der Übelkeit kamen noch Lustlosigkeit und so eine Art Lebensverdruss hinzu.
Es gab Tage, da war sie einfach nicht aus dem Bett zu bringen. Völlig apathisch lag sie da und tat einfach nichts. Zunächst war ihr Peter mit viel Liebe entgegengekommen. Aber das hatte sie auch nicht haben wollen und so kam es, dass er hin und wieder auch ein wenig unwirsch wurde und ihr gelegentlich vorhielt, sich nicht immer so anzustellen und dass sie sich gefälligst zusammenreißen sollte. Sie war daraufhin in Weinkrämpfe verfallen und hatte sich noch mehr zurückgezogen.
Schließlich waren sie bei einem Psychiater gelandet. Der hatte viel Geduld mit Elke. Mit Gesprächstherapie und medikamentöser Unterstützung war es ihm gelungen, ihr wieder ein bisschen Lebensmut einzuflößen. Aber ab und zu gab es eben einen solchen 'Einbruch' wie heute Morgen.
„Elke, hörst du nicht, es wird höchste Zeit!“, wiederholte Peter seine Mahnung, diesmal etwas schärfer.
In der Bank, in der sie als Kassiererin arbeitete, war man ihr sehr rücksichtsvoll begegnet. Immer, wenn es sie sehr schwer erwischt hatte, war der Filialleiter zur Stelle gewesen und hatte sich sehr einsichtig gezeigt. Manchmal hatte er sie auch nach Hause bringen lassen. Aber irgendwo gab es natürlich auch Grenzen. So hatte er ihr vor einiger Zeit doch geraten, eine längere Spezialkur anzutreten, um ihre völlige Arbeitskraft wiederzuerlangen. Daraufhin hatte sie drei Tage überhaupt nicht gearbeitet. So sehr war ihr diese Empfehlung ‚unter die Haut’ gegangen. Erst nach einer Entschuldigung des Chefs und dem zarten Hinweis, dass er es ja nur gut gemeint hätte, war sie wieder zur Arbeit zu bewegen gewesen.
„Ich glaube, ich lasse mich krankschreiben; ich schaff' es sowieso nicht ohne ihn“, klagte Elke, ohne Anstalten zu machen, das Bett zu verlassen. „Er fährt einfach in den Urlaub und lässt mich mit dem ganzen Kram alleine“, fuhr sie kraftlos fort.
Ach daher weht der Wind, verstand Peter. Dabei war doch alles abgesprochen. Schon seit Wochen hatte Elke von nichts anderem berichtet, dass der Chef jede Kleinigkeit mit ihr besprochen und auch dafür gesorgt hätte, dass von der Zentrale jemand zwei- oder dreimal in der Woche zur Unterstützung kommen sollte.
Immer und immer wieder hatte Klaus Matthießen nachgefragt, ob sie mit allem einverstanden sei und ob sie es auch schaffen werde. Und Elke war recht zuversichtlich; sie war sogar ein wenig stolz, dass der Chef ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte und nun heute Morgen dieser Rückfall.
Peter verspürte Ärger in sich aufkommen. Du musst dich jetzt zusammennehmen, gab er sich selbst den Rat, sonst ist alles vorbei und Elke müsste dann doch zukünftig mit einer anderen Tätigkeit auf dem Festland rechnen.
Klaus Matthießen hatte ihm gegenüber schon einmal so eine Andeutung gemacht. Das wäre wiederum nicht auszudenken, mit der Fahrerei und mit dem, was sonst noch daran hing.
Also, was tun, fragte er sich. Die größte Aussicht auf Erfolg sah er darin, in ihr die Verantwortung noch einmal groß zu machen, die der Chef ihr übertragen hatte.
„Du wirst die tragende Kraft in den nächsten vierzehn Tagen sein und das wird dir Auftrieb geben“, versuchte er es. Elke hob den Kopf.
„Meinst du wirklich?“
Mein Gott, es schien zu klappen, frohlockte Peter. Er biss sich auf die Lippen und suchte nach einer passenden Antwort.
„Du hast viel geleistet in eurer Bank.“
„Du hast recht Peter, Herr Matthießen soll sich freuen, wenn er aus dem Urlaub zurückkehrt.“
Was dann kam, fühlte sich für Peter fast wie ein Wunder an, denn solch eine Reaktion hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Beinahe schwungvoll kam seine Frau aus den Federn und ging ins Bad.
Er atmete erleichtert aus. Wer weiß, wie lange das anhält, kamen ihm jedoch gleich wieder Zweifel. Hoffentlich verlief der letzte Tag heute mit dem Chef harmonisch. Es durfte nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommen, gingen seine Gedanken weiter. Er konnte nicht wissen, dass er mit seiner gut gemeinten Hilfestellung, seine Frau zur Arbeit zu bewegen, eine neue Schicksalsrunde für sie beide eingeläutet hatte.
So ein Schmuddelwetter, schüttelte sich Karl Padow und hielt den Schirm krampfhaft gegen die Regenböen. Noch eine Querstraße, dann hast du es geschafft, machte er sich Mut. Den Blick auf das nasse Pflaster gerichtet, um so die Pfützen zu umgehen, bahnte er sich seinen Weg durch die schmale Gasse.
Wie viel Geld kann ich eigentlich abheben, ohne dass Herta darüber stolpert, rechnete er durch und war mit seinen Gedanken bei der Blonden.
Rums - der Schirm krachte gegen einen Laternenpfahl und Padow wäre beinahe ins Stolpern geraten, wenn ihm nicht ein entgegenkommender Herr rechtzeitig unter die Arme gegriffen und so vor einem Sturz bewahrt hätte.
Dankbar drehte er sich um und blieb ruckartig stehen. Das war doch die männliche Begleitung seines Schwarms. Blitzschnell drehte er sich nach allen Seiten um, konnte sie aber nirgendwo entdecken.
Seine Gedanken überschlugen sich. Er schaute auf die Uhr: Zwanzig vor zwölf. Er wusste, dass die Bank in zwanzig Minuten schließen würde. So hatte er noch ein paar Minuten Zeit, dem Mann zu folgen. Er würde ihn sicherlich zum Hotel seiner Neuentdeckung führen, so meinte er.
Padow wechselte die Straßenseite, um nicht gleich aufzufallen.
Der andere schien eine feste Adresse im Auge zu haben, denn er ging schnurstracks auf das Hotel 'Meeresrauschen' zu.
Sollte ich so ein Glück haben, frohlockte Padow und richtig, sein Helfer ging auf die andere Straßenseite, nahm die Eingangsstufen zum Hotel fast im Laufschritt und schon war er durch die offene Tür seinen Blicken entschwunden.
Karl wollte gerade nachsetzen, doch ein nochmaliger Blick auf seine Uhr hielt ihn zurück. Es war jetzt elf Uhr und fünfzig. Sei vernünftig, ermahnte er sich selbst. Du weißt jetzt, wo sie vermutlich gastiert und du brauchst unbedingt noch Geld.
Während der letzten Gedanken hatte er sich schon umgedreht und in einem leichten Dauerlauf den Rückzug angetreten. Mein Gott, schnaufte er nach einigen Metern, du bist auch nicht mehr der Jüngste. Ich glaube, du müsstest ein wenig mehr Sport treiben. Seine linke Seite fing an zu stechen, so dass er immer langsamer wurde und schließlich nur noch im Schritttempo vorankam.
Nach der letzten Biegung sah er in der Verlängerung der