Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane. Alfred Bekker
»Ich glaube, ich habe da was, ist mir eben eingefallen ...«
Er erkannte ihre kleine, unsichere Stimme sofort. Er setzte sich auf, räusperte sich noch einmal und wollte zu einer Frage ansetzen.
»Sind Sie noch da? Ich bin's, Tina Wolf.«
»Ja, Ja, natürlich.« Er war jetzt hellwach. »Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nein, das nicht, aber ich kann Ihnen etwas zeigen.«
»Wo sind Sie?«
»Bei meinen Eltern. He, aber nicht jetzt! Kommen Sie ins Geschäft. Irgendwann. Heute Mittag vielleicht?«
»Wann fangen Sie an?«
»Um zehn.«
»Kommen Sie etwas früher. Neun Uhr?«
Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er legte einfach auf.
V
Um halb zehn bog sie endlich in die kleine Straße ein. Er stieg aus und schmetterte die Tür des Dienstwagens zu.
Sie trug einen langen weinroten Rock und eine dünne weiße Bluse. Ihre große Schultertasche, die schon eher ein Sack war, schlug bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Ihr Anblick, das kleine, zögernde Lächeln im zarten Gesicht, entschädigte ihn für das ungeduldige Warten.
Mit einer eckigen Bewegung streckte sie ihm die Hand hin, zog sie aber sofort wieder zurück, nachdem er sie gedrückt hatte, als befürchtete sie, er würde sie nicht mehr loslassen.
»Wo können wir hingehen?«, fragte er. »In Ihren Laden?«
»Ich habe noch nicht gefrühstückt«, sagte sie. »Wenn ich so früh aufstehe, kriege ich keinen Bissen runter. Ich brauche nur 'ne Tasse Kaffee bei Tchibo oder so«, fügte sie schnell hinzu, als sie seine Ungeduld bemerkte.
Sie gingen in ein Bistro am Großmarkt, in dem es auch Frühstück gab. Roth bestellte Kaffee und einige Croissants.
»Ich habe auch noch nichts im Magen«, sagte er.
Sie sah ihn kurz an. »Schlecht geschlafen?«, fragte sie.
Er hob nur die Schultern, brach ein Stück von einem Hörnchen ab und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter.
Er starrte auf die festen kleinen Brüste, die deutlich unter dem dünnen weißen Stoff zu erkennen waren, und er schluckte. Jäh wurde ihm bewusst, dass er seit mehr als vier Wochen keine Frau mehr gehabt hatte.
Sie bemerkte seinen Blick nicht.
»Ich hätte mit dem Anruf auch warten können«, sagte sie kleinlaut, während sie mit beiden Händen in der großen Tasche kramte.
»Das ist schon in Ordnung«, murmelte er. Er war froh, dass es ihm gelang, seine Fassung wiederzugewinnen.
Sie legte eine Postkarte neben seine Tasse, mit der Bildseite nach unten. Roth erkannte die französische Briefmarke und Sigrids etwas chaotische Schriftzüge.
Er nahm die Karte in die Hand. Sie war an Tina adressiert und im Mai abgestempelt. Also vor dem Mord an Blume.
Er überflog den Text. Er spürte einen kleinen Stich, weil ihm einige der Formulierungen bekannt vorkamen.
Verleben hier eine herrliche Zeit ... Grandiose Landschaft ... Beeindruckende Stille ...
Er stutzte. Die letzte Zeile war in einer ihm fremden Handschrift geschrieben. Herzliche Grüße an die kleine Schwester von Hilmar.
Endlich drehte er die Karte herum. Der Anblick der kleinen rotbraunen Steinhäuser mit den staubigen Ziegeldächern, die sich über einer steil abfallenden, schmalen Straße an den hellen Kalksteinfelsen klammerten, überraschte ihn nicht mehr, genauso wenig wie der Anblick des ausladenden Feigenbaumes, in dessen Schatten samstags schwarzgekleidete Frauen Honig, Lavendelsträußchen oder Olivenöl feilboten. Er betrachtete die silbrigen Olivenbäume, die ihre Wurzeln in den kargen Boden gruben und die schlanken Zypressen hinter bröckelnden Mauern, und er glaubte, wieder dieses Duftgemisch in der Nase zu spüren, das unter einer brennenden Sonne aus den Blütenteppichen aufstieg.
Sie war auch mit Blume dort gewesen.
Zweimal war er, Roth, mit Sigrid in dem kleinen Dorf am Südausgang der Gorges de Daluis gewesen. Sie hatten ihr Zelt am Ufer des selbst im Sommer noch reißenden und eiskalten Gebirgsflusses aufgeschlagen und die wilde Landschaft erkundet. Mit Händen und Füßen und atemloser Freude.
Sie hatte sich in das Land verliebt, daran erinnerte er sich genau. Wenn sie durch die engen, kühlen Gassen des kleinen Ortes mit den vielen Stufen und geheimnisvollen Durchgängen gegangen waren, hatte sie nach den Schildern Ausschau gehalten, auf denen stand, dass hier ein Haus zu verkaufen, dort eins zu vermieten war.
Auf der Postkarte entdeckte er einen mit der Spitze des Kugelschreibers hineingedrückten Punkt über einem der roten Dächer. Er drehte die Karte noch einmal um. An den Rand hatte Sigrid gekritzelt: Wir wohnen genau unter dem Turm.
Roth sah Tina aufmerksam an. »Wieso ist Ihnen diese Karte eingefallen?«, fragte er.
»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe über unser Gespräch gestern Abend nachgedacht, es ging mir nicht aus dem Kopf. Da fällt einem so manches ein.«
»Dass sie Ihnen eine Karte aus dem Urlaub geschrieben hat?«
»Ja, und was sie später dazu gesagt hat. Als sie von der Reise kam, von der da«, sie deutete auf die Karte, »hat sie uns besucht. Meine Eltern und mich. Sie hat gesagt, dass sie dort gern leben würde.«
Das hatte sie auch zu ihm gesagt, als sie dort unten waren. Sigrid geriet leicht ins Schwärmen. Er sah Tina an. Sie bemerkte seine Enttäuschung.
»Ich weiß nicht mehr genau, wie sie es gesagt hat«, fuhr sie eifrig fort. »Wenn sie könne, oder wenn sie Probleme habe, wenn sie allein sein wolle, dann würde sie dort hingehen.« Sie steckte eine Zigarette zwischen ihre Lippen. »Mehr ist es nicht«, gab sie zu. »Haben Sie Feuer?«
Er sah noch einmal auf den Poststempel. Drei Wochen nach dem dort gezeigten Datum war Blume ermordet worden. Am 15. Juni. Da sie von den Kollegen der Mordkommission anscheinend nicht vermisst wurde, nahm er an, dass sie ihnen eine ausreichende Zeit zur Verfügung gestanden hatte und dass keine Fragen offen geblieben waren. Demnach musste sie ihre Zelte in Hamburg irgendwann im Juli abgebrochen haben.
»Wo hat sie zuletzt gearbeitet?«, fragte er. »War sie noch bei dieser Computerfirma in Harburg?«
»Schon lange nicht mehr. Sie hat für Blume geschrieben. Berichte abgetippt, auch Material gesammelt, glaube ich. Recherchiert, ja, davon hat sie mal gesprochen.«
Roth atmete flach. Davon hatte er kein einziges Wort in den Protokollen entdeckt. Er war sicher, dass er nichts übersehen hatte. Sie hatte verschwiegen, dass sie mehr als Blumes Freundin gewesen war.
»Was werden Sie tun?«, fragte Tina, als er der Kellnerin winkte und ihr einen Geldschein reichte. »Dahin fahren?«
Er steckte die Karte ein. »Ich weiß es nicht, ich glaube nicht«, sagte er.
Er wusste noch, in welcher Sparkassenfiliale Sigrids Gehaltskonto geführt worden war, und aus langer Erfahrung als Fahnder wusste er, dass viele Leute ihrer alten Filiale treu blieben, selbst wenn sie in einen ganz anderen Stadtteil zogen oder ihre Arbeitsstelle wechselten.
Roth geriet an einen bedächtigen älteren Sparkassenangestellten, mit dem er vor Jahren schon einmal zu tun hatte und der sich noch an ihn erinnerte.
»Bevor ich eine gerichtliche Verfügung zur Aufhebung des Bankgeheimnisses beantrage«, erklärte Roth, »möchte ich erst feststellen, ob Frau Wolf sich bewusst den Nachforschungen entzieht, oder ob sie einfach ihren Wohnort gewechselt und es versäumt hat, sich dort anzumelden.«
Der Angestellte tippte konzentriert auf die Tastatur seines Computerterminals.
»Die