Zurück zu Schmitt!. Johannes Hucke

Zurück zu Schmitt! - Johannes Hucke


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packte die Wurst in die Satteltasche und schob sich weiter zu einem Feinkoststand vor, der die besten Salate der Stadt bereithielt. Jedenfalls sagte man so in den Siebzigern. Zu Fleischwurst gab es Krautsalat. Hier waren die Verkäuferinnen redseliger, und da konnte es auch einmal vorkommen, dass Schmitt einen Witz aus seinem Repertoire anbrachte. Es waren circa 70 Stück. Die Menge war seit etwa 1980 konstant geblieben. Hin und wieder gesellte sich bis zu seinem Ausscheiden aus der Packura ein weiterer hinzu, und ein wenig erfolgreicher konnte gelöscht werden.

      Am meisten freute er sich, wenn eine mollige Blonde namens Bettina ihn bediente – so wie an diesem Dienstag im Frühherbst. Das frische Hellblau ihrer Schürze war seine Lieblingsfarbe, schon immer. Mit List unternahm er einen kommunikativen Vorstoß, der an Schäkerei grenzte.

      „Ah, da ist sie ja wieder, meine Salatfee! Na, wo waren wir denn letzte Woche, hm?“

      Er drohte ihr mit seinem voluminösen Zeigefinger.

      „Junge Damen auf Abwegen, da geht man am besten in Deckung.“

      Bettina lächelte so süßlich wie möglich und bemühte sich, die triefenden farblosen Weißkrautfäden rasch und ohne zu tropfen in das Plastikschälchen zu hieven.

      „Genau 200 Gramm.“

      „Sie sind ja ein Genie!“

      Das war´s dann für heute.

      Mehr Gespräche mussten nicht geführt werden. Es war auch genug. Schmitt entsicherte seinen Markenschirm, schob damit Passanten zur Seite, überquerte so zielstrebig, aber nicht mehr ganz so schnell wie einst den Platz zur Tiefgarage, parkte schimpfend aus und fuhr schimpfend nach Hause. Die übrigen Verkehrsteilnehmer waren größtenteils unfähig; man musste ständig auf ihre Fehler reagieren. Schmitt fuhr grimmig, beide Hände um das Lenkrad gekrallt. Sein Lieblingsschimpfwort war „Ihr Arschis!“ Allerdings hörte ihn keiner.

      Die ihn wahrnahmen, winkten ab.

      Bis zu seiner (eminent unfreiwilligen) Pensionierung hatte er sich als untadeliges Vorbild an Korrektheit empfunden. Schmitts Tugendschulung war zwar nicht mehr in die braunen Jahre gefallen, aber das Deutschland der Fünfziger Jahre hatte seinen Wertekodex noch nicht geändert; es war nur notgedrungen defensiv geworden. Der Zorn richtete sich nach innen. Statt andere zu versklaven, mussten die Apparaturen der Selbstzwänge verstärkt werden; der Energielevel blieb derselbe.

      Über Pünktlichkeit brauchte man nicht nachdenken. Das richtige Maß an geschäftsmäßiger Höflichkeit zu bestimmen, war eine Kunst, die keiner so gut beherrschte wie er: mit zu viel machte man sich lächerlich, zu wenig konnte den Geschäftsgang hindern. Am Telefon ging es vor allem um die Schattierungen der Stimme. Schmitt rühmte sich, fünf Telefone auf dem Schreibtisch stehen zu haben. Mehrere Gespräche gleichzeitig zu führen, gehörte zur Basisausstattung eines Abteilungsleiters. Im direkten Kundengespräch freilich kamen Mimik und Gestik hinzu: eine präzise Koordination hunderter Körperfunktionen, die einer gewissen Virtuosität nicht entbehrte.

      Kein Ereignis in Schmitts Leben hatte ihn so getroffen wie die Beendigung seiner Diensttätigkeit bei der Packura, kurz nach seinem vierzigsten Jubiläum. Zum ersten Mal seit seiner Jugendzeit (ein Hodenhochstand) musste er zum Arzt, weil er nicht mehr atmen konnte.

      „Wissen Sie was, mein Bester“, hatte der junge Schnösel unangebracht jovial gemutmaßt, „Sie haben eine berufliche Traumatisierung erlitten.“

      Traumatisierung ... War das nicht die Lieblingsausrede aller Schwächlinge? Schmitt brachte sich in Sicherheit. Und beschloss, fortan alles, was mit „seiner“ Firma zu tun hatte, zu vergessen.

      „Ein Guter hält´s aus.“

      Das war gar nicht so einfach, vor allem nachts nicht. Tagsüber zog sich die Zeit. Es bedurfte eines exakten Tagesplans, an dessen Einhaltung nicht zu rütteln war, umso mehr, seit Heidelindes Regierungsposten verwaist war. 5:30 Uhr Aufstehen, wie gewöhnlich. 6:30 Uhr, da war der Bäckerladen noch leer, Erwerb von vier Weißmehlbrötchen. 7 Uhr Radio anschalten. Verzehr von zwei Weißmehlbrötchen mit Honig bzw. Konfitüre, dazu sechs Tassen Jakobs Krönung. 7:30 Uhr Radio ausschalten. Abspülen. Erste Zigarette, HB selbstverständlich. Studium des „Evangelischen Regionalboten.“ Vor sich hin starren. 8:30 Uhr Fahrt in die Innenstadt zum Einkaufen. 10 Uhr Rückkehr. Zweite Zigarette. Erstes Kreuzworträtsel. Dritte Zigarette. Vor sich hin starren. 12 Uhr Mittagessen inklusive Weißmehlbrötchen, dazu ein Bier, danach ein Korn oder Wacholder.

      „Ah!“, machte er in die leere Küche.

      Da Schmitt sich niemals ein Mittagsschläfchen gönnen würde, setzte er sich nach Tisch nur ein wenig auf die Couch. Dass er dort einschlief, hätte er niemals zugegeben. Die Nachmittage wurden gerettet durch Friedhofsbesuche. An Heidelines Grab rauchte er eine HB. Das Abendbrot bestand aus zwei Scheiben Brot und dem übrigen Brötchen; waren, bedingt durch üppiges Mittagessen, noch zwei Brötchen übrig, reduzierte sich die Anzahl der verzehrten Brotscheiben auf eine.

      Ab 18:30 Uhr durfte dann der Fernseher laufen. Schmitt gehörte nicht zu den Disziplinlosen, die schon am Nachmittag – oder gar am frühen Morgen – die Glotze anschalteten. Dazu gab es drei Flaschen Bier und weitere Zigaretten.

      Viel Verwandtschaft war nicht mehr übrig.

      Den sehr wenigen Neffen und Nichten gegenüber verhielt er sich freundlich und aufmerksam, sparte auch nicht an Geschenken. Ostersonntag und Heiligabend verbrachte er im Haus einer Schwester, auch so manchen Geburtstag – ob zu seiner Freude, das war ihm nicht anzumerken.

      „Ein Guter hält´s aus.“

      Die letzten beiden Jahre bei der Packura waren dazu angetan, so gut wie alles, was er in den Jahrzehnten vorher an Anerkennung, Erfolg, Humor, Diensteifer, Kollegialität, Loyalität erlebt hatte, komplett zu annullieren. Eine Umstrukturierung? Selbstverständlich! Aber nicht nur eine; ein Katarakt von Umstrukturierungen wirbelte das Haus durcheinander, bis nichts mehr beim Alten war.

      Und das ihm!

      Es begann damit, dass der neue Regionalleiter Schießfurther, von Schmitt nur Schissfurther genannt, ein Günstling von Essenwein jun., der eigentlich ein feiner Kerl war, ihn zwang, einen Computerkurs zu besuchen. Als Kurt ablehnte, wurde er in eine andere Abteilung versetzt: nach verzig Dienstjahren! Entweder, man gab ihm gar nichts mehr zu arbeiten, oder aber Praktikantentätigkeiten waren zu erledigen. Dreimal wurde Schmitt beim Chef vorstellig. Aber Direktor Essenwein – so gab er vor – konnte nichts mehr für ihn tun.

      Drei Monate, bevor Schmitt „aus dem Haus gejagt“ wurde, verschlechterte sich seine Arbeitssituation abermals. Er ging seines Schreibtischs verlustig. Man schubste ihn in einen Gang nahe bei der Fertigung, wo ein Drehstuhl mit aufgeplatztem Polster auf ihn wartete.

      Es zog.

      Die Arbeiter grüßten ihn zwar höflich, wussten aber nichts mit ihm anzufangen. Jene alten, mit denen er noch Kriegswitze ausgetauscht hatte, waren ebenfalls längst erledigt worden. Er war einsam. Es gab keine Aufgabe mehr für ihn.

      Das hielt auch der Beste nicht aus.

      Heidelinde lebte noch ein paar Jahre. Das war die schlimmste Zeit. Beide pensioniert, beide verbittert und neurochemisch verseucht durch das niemals weichende Kränkungsgefühl einer unehrenhaften Entlassung, mussten nun ineinander den Hauptfeind erkennen. Sonst war ja keiner mehr da. Es spielten sich Szenen ab, für die sie früher jedes junge, streitsüchtige Pärchen maßlos verachtet hätten. Heidelinde zog die Konsequenz. Sie erkrankte. Litt. Und starb.

      Die vollständige Einsamkeit, die von da an wie ein im Flug erstickter Albatros von der Zimmerdecke hing, ließ sich besser aushalten als die von tosendem Hass geprägten Jahre zuvor. „Die schlimmste Einsamkeit ist die Einsamkeit zu zweit“, klang es in Schmitts Gedächtnis nach, von irgendwoher. So hatte selbst die finsterste Epoche in seinem Lebenslauf nachfolgend noch ihr Gutes gehabt.

      Zwei Briefe

      „Sehr verehrter Herr Schmitt,

      mein lieber Kurt!

      Wie


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