Bitter Love (3 Teile Gesamtausgabe). Alexa Kim

Bitter Love (3 Teile Gesamtausgabe) - Alexa Kim


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schlüpfe ich in die Stiefel mit den hohen Absätzen. Mutanten sind groß, und ich reiche Ash ohnehin kaum bis zur Brust.

      Betont laut trete ich mit den Stiefelabsätzen auf, als ich in die Küche gehe. Mit dem Led-Stab leuchte ich Sid ins Gesicht. Er ist mit dem Kopf auf dem Küchentisch eingeschlafen und schnarcht leise. Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Wieder einmal hat er gestern Abend den Weg ins Bett nicht mehr gefunden. Den findet er nie, wenn er aus dem Tenfathers kommt. Mein kleiner Bruder ist zu einem Blutjunkie geworden! Mutantenblut verursacht Rauschzustände; und viele Mutanten fühlen sich sicherer, wenn sie ihren Spender von sich abhängig machen. Wer sich darauf einlässt, hat den Schritt in die Hölle getan. Mutanten lieben Blut- und Sexsklaven. Die einzige Gerechtigkeit ist, dass sie sich nicht fortpflanzen können. Nicht auf natürlichem Weg!

      Ich versuche mir vorzustellen, was Angel mit meinem Bruder tut. Ich weiß, dass er einen Vertrag mit der Mutantin hat. Ihr Zeichen auf seiner Hand zeigt zwei gespannte Flügel. Ich muss wieder an Ash denken und daran, wie viel Glück ich habe.

      Sid versucht, den grellen Strahl des Led-Stab mit der Hand fortzuwischen. Ich gehe näher an ihn heran und leuchte ihm direkt in die Augen. „Sid ... steh auf, komm schon!“

      Er hebt den Kopf und sieht mich stumpfsinnig aus blutunterlaufenen Augen an. Sein blondes Haar steht strubbelig in alle Richtungen ab, und seine Pupillen sind so groß, dass seine Augen fast schwarz wirken. Ohne Vorwarnung packt er mich um die Taille und zieht mich an sich. „Angel … Ich brauch noch was, um über den Tag zu kommen.“

      Ungehalten befreie ich mich aus Sids Griff. Ich bin so verdammt sauer … und verzweifelt. „Ich bin es – Taya, deine Schwester.“ Ich rüttelte an seinem Arm, damit er endlich wach wird.

      Sid wird sauer. Wenn er auf Entzug ist, hat er schlechte Laune. Nicht gerade die beste Zeit, einen Streit mit ihm anzufangen. „Taya … nerv nicht! Nicht jetzt!“

      „Du denkst nur noch an dieses Miststück!“

      Er springt auf, in seinen Augen funkelt es wild. Grob packt er mich am Arm und stößt mich gegen den Küchenschrank. Ich schreie auf, als mein Rücken gegen den Kunststoff knallt.

      Sid atmet schwer. „Du weißt doch, dass du mich nicht reizen darfst, wenn ...“ Er schweigt, weil er den Satz nicht zu Ende bringen will.

      „Wenn du auf Entzug bist?“, antworte ich für ihn. „Sid … wir haben keinen Sol mehr. Wir fliegen aus dem Apartment. Ich muss was tun.“ Vielleicht ist es nicht die beste Gelegenheit, bei ihm wegen Ash vorzuhorchen. Wir haben unzählige Abende diskutiert und uns gestritten. „Ich verbiete es dir … als dein Bruder!“

      Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wenn Sid wüsste, dass schon alles im Gange ist, würde er ausrasten. Er ist fünf Jahre jünger als ich und alles, was ich an Familie habe. Deshalb hänge ich so an ihm, obwohl er mir das Leben zur Hölle macht. Unsere Eltern sind bei einem Unfall gestorben, als ich Fünfzehn war. Jetzt bin ich Fünfundzwanzig. Von einem behüteten Leben waren Sid und ich damals in die Haltlosigkeit gestürzt. Ich habe mich immer bemüht, Sid Mutter und Vater zu ersetzen. Aber Sid ist trotzdem ein Blutjunkie geworden.

      „Ich will nicht, dass das aus dir wird, was aus mir geworden ist.“

      „Dann sieh zu, dass du clean wirst und hilf mir endlich.“ Ich strecke meine Hand aus. „Sid … bitte!“ Den Job bei den Magnatec habe ich durch die Forschungsabteilung bekommen, für die meine Eltern gearbeitet haben. Schon mit Fünfzehn musste ich lernen, erwachsen zu werden. Es hat mich nie gestört, für Sid und mich zu sorgen. Aber mir wächst einfach alles über den Kopf. Ash lässt sich Zeit mit dem Vertrag, und drängen will und kann ich ihn nicht. Ich muss also noch eine Weile durchhalten. Wenn Sid nur endlich einsehen würde, dass es so nicht weitergehen kann.

      Das Apartment, in dem wir wohnen, liegt im schlechtesten Viertel Daytowns in der zehnten Etage eines uralten Wohnblocks. Bisher habe ich Ash von hier fernhalten können. Ich möchte nicht, dass er mich in all diesem Müll sieht.

      Demonstrativ öffne ich den Schrank mit unseren Notreserven und zähle vier Dosen mit Sojabohnen, fünf Teebeutel und eine Tüte Sojamehl. Mein Magen knurrt, aber ich verbiete mir, eine der Dosen anzurühren. Etwas anderes als Sojaprodukte können wir uns nicht leisten. Die wenigen Agrarstationen werfen wenig ab – und Soja ist das Einzige, was mit wenig Energieaufwand in größeren Mengen angebaut werden kann. Sogar der Tee ist aus Sojabohnen. „Schau, Sid … das ist alles, was wir noch haben.“

      Er weicht meinem Blick aus, sagt aber nichts.

      Ich muss einfach das Letzte verkaufen ... mich selbst! An Ash … auch wenn ich mich ihm liebend gerne schenken würde. Doch alles andere habe ich längst verkauft. Zuletzt sogar den Schmuck, der unserer Mutter gehört hat. Nur von einem einzigen Gegenstand habe ich mich nicht trennen können – von einem kleinen Brieföffner. Er hat meinem Vater gehört, und ich erinnere mich daran, wie er Briefe damit geöffnet hat. Kleine blaue Umschläge. Ich habe nie erfahren, von wem die Nachrichten waren. Normalerweise lief die Post meines Vaters über den internen E-Mail-Verkehr von Magnatec. Energie war damals noch nicht so knapp wie heute. In den letzten Jahren ist die Energiesituation in Daytown so schlimm geworden, dass sie kaum noch zu ertragen ist.

      „Ich werde mich für einen Blutvertrag anbieten.“

      Sid sieht mich mit verletztem Stolz an. „Wir besprechen das heute Abend, Taya.“

      Dann springt er auf, greift sich seine abgewetzte Armeejacke, die er in einem alten Lagerhaus gefunden hat, und flüchtet aus dem Apartment.

      Ich schaue zu, wie die Wohnungstür hinter ihm zuknallt. Soviel dazu!

      Seufzend nehme ich den Brieföffner meines Vaters aus dem Versteck unter den Bodendielen und stecke ihn mir in den Hosenbund. Würde ich ihn nicht verstecken, hätte Sid schon längst versucht, ihn für einen Trip zu verkaufen. Sorgfältig schiebe ich Top und Pullover darüber. Ein Brieföffner kann einen Mutanten nicht töten, ihn aber für kurze Zeit außer Gefecht setzen, sodass ich weglaufen kann ... wenn ich Glück habe.

      Bisher habe ich Glück gehabt, aber sich allein auf sein Glück zu verlassen, wäre naiv. Mein sicherster Schutz ist ein Vertrag und Ashs Zeichen auf meiner Hand. Damit steige ich vom bloßen Futter zum Haustier auf. Als Besitz eines Mutanten habe ich gewisse Privilegien. Schutz, Kleidung, Nahrung. Ich muss Ash heute nach dem Vertrag fragen. Es geht nicht anders.

      Im Treppenhaus leuchte ich mit dem Led-Stab die Ecken aus, während ich die zehn Etagen hinunter laufe. Man kann nie wissen ... Auch wenn das Wildern von Menschen verboten ist, halten sich nicht alle daran – vor allem die jungen Mutanten haben sich nicht gut im Griff.

      Auf der Straße vor dem Haus sind endlich die Lichter der Laternen angesprungen. Fast körperlich ist die Erleichterung der Menschen zu spüren.

      Als ich um die Ecke biege, sehe ich einen Reinigungstrupp in weißen Anzügen anrücken, die mit Schläuchen einem frischen Graffito zu Leibe rücken. Ich muss grinsen. Zumindest den Rebellen kommt die Stunde weniger Energie zugute.

      Überall in Daytown sprayen die Rebellen ihr Zeichen an die Wände. Eine Sonne mit flammenartigen Strahlen. Sie kämpfen für Menschenrechte und eine bessere Lebensqualität in den Städten. Auch wenn ich ihren Kampf sinnlos finde, gefällt mir der Gedanke, dass es Menschen gibt, die sich gegen die Herrschaft der Loge und der Mutanten wehren.

      Ich betrachte das gelb strahlende Sonnensymbol, das hartnäckig gegen die Hochdruckwasserschläuche der Reinigungskolonne standhält. Sonne! Ich kenne die Sonne nur aus Filmen oder von Fotos. Seit sie im Jahr 2029 verschwand, ist sie nie wieder auf- oder untergegangen.

      Die Wissenschaftler glaubten damals, sie hätten an alles gedacht: Computer, Umweltschutz, erneuerbare Energien. Kurz vor der Katastrophe hatten die Regierungen sich sogar aus der Atomenergie zurückgezogen und stattdessen auf umweltfreundliche Energien wie Wind- und Solarkraft gesetzt. Aber damit, dass ein Meteorit auf der Sonne einschlägt, dessen Helium-Wasserstoffverdampfung einen so starken Rückstoß auslöst, dass die Erde aus ihrer Umlaufbahn geworfen wird – damit haben sie nicht gerechnet.

      Doch


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