Liebe jenseits von Paarbeziehungen. frieder hentzelt
würde niemand, der sich mit dem Thema beschäftigt, behaupten, alle Aspekte zu bedenken, die mit Blick auf schwule Beziehungen wichtig sein könnten; es muss immer eine Auswahl getroffen werden, die niemals bis zum Letzten begründet werden kann. So erhebt auch der folgende Text keinen Anspruch auf Vollständigkeit und wird so manches unberührt lassen, was dem einen oder der anderen wichtig gewesen wäre. Die Begrenzungen, die hier getroffen werden, ergeben sich vor allem aus der Konzentration auf zwei Grundfragen. Diese werden aus verschiedenen Blickwinkeln umkreist. Sie sollen vor allem anschaulicher gemacht und vertieft werden. Konkrete Antworten können nicht immer angestrebt werden.
Wie schon mehrfach angedeutet, geht es in der ersten Grundfrage um die Rolle und Stellung der Paarbeziehung, wie sie sich heute darstellt. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden die Stärken und Schwächen dieses Beziehungsmodells ins Auge gefasst: was für Möglichkeiten eröffnet es und welche Schwierigkeiten und Konflikte werden in ihm und durch es virulent. Bei der zweiten Grundfrage geht es um die Liebe, die gegenwärtig als Grund und Zentrum der Paarbeziehung angesehen wird. Es wird gefragt, was sie eigentlich ist und wie sie sich ausdrücken und gestalten lässt.
Es ist ein gewagtes Unternehmen, sich auf das Thema Liebe einzulassen, angesichts der Tatsache, dass es kaum einen philosophischen, theologischen, soziologischen oder psychologischen Entwurf gibt, bei dem es nicht auch zentral um die Liebe geht. Die Chance, hier irgendetwas zu finden, das nicht schon von anderen gründlicher durchdacht und umfassender dargestellt worden ist, dürfte gering sein.
Dennoch muss diese Grundfrage behandelt werden, weil gegenwärtig von Paarbeziehungen nicht gedacht und gesprochen werden kann, ohne die Liebe zu berücksichtigen. Die beiden Grundfragen hängen so eng miteinander zusammen, dass man sie auch als die zwei Seiten ein und derselben Medaille ansehen kann. Bei der Untersuchung der Paarbeziehung kommen ja immer die zwei Aspekte in den Blick, die sich gegenseitig beeinflussen. Da ist zum einen das subjektive Geschehen der Liebe, des Begehrens und der Bedürfnisse zweier Menschen. Es mag sein, dass hier ganz tiefe Teile ihrer ganz individuellen Existenz betroffen sind.
Daneben steht dann immer die Seite der gesellschaftlichen Bedingungen von Beziehungen, ihre etablierten Muster und Institutionen. Diese zu übersehen bedeutete, aus Beziehungen etwas völlig abstraktes zu machen, das nicht in unserer Welt stattfindet. Es gibt zwar eine ehrfurchtgebietende, lange wissenschaftliche Tradition, die in den Gefühlen und der Sexualität von Menschen etwas sehen will, das im menschlichen Wesen selbst, jenseits aller geschichtlichen Bedingungen verankert ist. Angesichts der gewaltigen Veränderungen und Umbrüche, die sich auf diesem Gebiet aber allein in den letzten Jahrzehnten ereignet haben, wird eine solche Betrachtungsweise schwer durchzuhalten sein. Ob es überhaupt einen Menschen jenseits seiner Geschichte und Situation gibt, kann mit Recht gefragt werden. Auf die Annahme eines solchen abstrakten Wesens soll im Folgenden auf jeden Fall verzichtet werden.
Es wird immer beides im Auge zu behalten sein: Dort, wo es primär um die äußere Gestaltung von Beziehungen geht, wie etwa im Kapitel über das Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft, wird untersucht werden müssen, wie hier Empfindungen, Sehnsüchte und Bedürfnisse geordnet und vorausgesetzt, aber auch von sich aus wirksam werden. Ebenso wird da, wo die subjektive Seite der Gefühle im Zentrum steht, wie im Kapitel über die Liebe, auch die Frage, welche der gesellschaftlich angebotenen Beziehungsmodelle auf welche Weise betroffen sind, nicht ignoriert werden können.
Für das Nachdenken über schwule Beziehungen wird ein Vorgehen angestrebt, das dem ähnelt, das Moshe Feldenkrais für die Arbeit mit Bewegungsabläufen vorgestellt hat. Dem Gewohnten und Vertrauten werden Alternativen zur Seite und gegenüber gestellt. Sie werden durchgespielt und versuchsweise ausprobiert. Eine Bewertung der verschiedenen Möglichkeiten durch den Anleiter wird strikt vermieden. Sie wird den Anwenderinnen und Anwendern überlassen. Sie dürften die einzigen sein, die beurteilen können, was für sie in ihrer Situation das Brauchbarste ist. Es ist das Anliegen, mehr Bewusstheit für das eigene Handeln zu erarbeiten und so Erstarrungen und voreilige Festlegungen zu überwinden und die eigene Urteilskraft zu verfeinern. Damit soll das Handlungsrepertoire erweitert und so die Fähigkeit gestärkt werden, mit Problemen sinnvoll und angemessen umgehen zu können.
In diesem Sinne verstehen sich auch die vorgestellten Überlegungen. Es ist nicht ihr Ziel, für irgendeine Sichtweise oder Position eine Überlegenheit gegenüber anderen aufzuzeigen. Es geht ihnen vielmehr darum, auch für das Ungewohnte seine Denkbarkeit und Praktikabilität zu erweisen und damit die Freiheitsgrade für die Wahl des persönlichen Lebenskonzeptes zu erhöhen.
Im ersten Abschnitt steht nicht die Auseinandersetzungen mit Beziehungskonzepten und den jeweils mit ihnen verbundenen Gefühlen im Mittelpunkt. In ihm geht es explizit um Beziehungen im Leben schwuler Männer. Daraus ergibt sich fast automatisch die Frage, ob sich dazu irgendetwas anderes sagen lässt, als zu Beziehungen von Frau und Mann. Es soll also zuerst besprochen werden, welche Entwicklung die schwulen Beziehungen im Laufe des letzten Jahrhunderts genommen haben, ob, und wenn ja welche Unterschiede derzeit zu finden sind zu gegengeschlechtlichen Beziehungen. In der Diskussion um die sogenannte rechtliche Gleichstellung wird zum Beispiel immer wieder behauptet, es gebe hier letztlich keine. Im Zusammenhang mit der Untersuchung dieser Annahme werden schon wichtige Sachverhalte herausgearbeitet, wie etwa die Traditionslosigkeit oder die Institutionsfremdheit schwuler Beziehungen, die im weiteren Verlauf immer wieder eine Rolle spielen werden.
In den Abschnitten 2,3 und 4 wird jeweils ein Argument angesprochen, das häufig angebracht wird, wenn eine Paarbeziehung als Ideal auch für Lesben und Schwule erweisen werden soll. So setzt sich etwa ein Mensch, der sein Leben nicht gemäß diesem Ideal organisiert, dem Verdacht aus, zu einer normalen Beziehung nicht fähig, beziehungsunfähig zu sein. Als Erfüllung jeder echten und tiefen Liebe wird dann eine Paarbeziehung angesehen.
Als Grund dafür, warum Schwule und Lesben nicht verheiratet sind, wird allein die rechtliche Ungleichbehandlung angesehen. Mit Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und spätestens seit deren Präzisierungen durch das Verfassungsgericht, öffnete sich auch für Schwule und Lesben die Welt der Ehe. Gemäß den oben dargestellten Grundsätzen ist klar, dass eine Antwort auf diese Auffassungen nicht darin bestehen wird, die Paarbeziehung abzuwerten. Es wird nur auf ihrer Problematik hingewiesen, die sie - wie jedes andere Beziehungsmodell auch – hat. Durch die kleinschrittige Arbeit an verschiedenen Aspekten dieser Themen soll die Möglichkeit und Notwendigkeit alternativer Ansätze herausgestellt werden.
Ihren Abschluss finden die Überlegungen in der Frage, wie sich Liebe jenseits der Paarbeziehung gestalten könnte. Das ist eine schlichte Konsequenz aus den bis dahin durchgehaltenen Grundannahmen. Was im vorliegenden Text geschehen kann, ist vor allem die Arbeit an den nötigen Freiräumen. Dahinter steht das große Zutrauen, dass dort, wo die Möglichkeit dazu ergriffen wird, die Liebe jenseits der Paarbeziehung ihren Weg finden wird .
Wenn in der Liebe trotz allen Problemen, die aufgezeigt wurden, etwas positives gesehen wird, von dem gehofft wird, dass es sich auch jenseits der Paarbeziehung durchsetzt, mag man darin ein unbegründetes Zugeständnis an die überkommenen Wertvorstellungen sehen. Es könnte sich darin aber auch eine verständliche Faszination ausdrücken gegenüber dem, was wir Liebe nennen. Eine Entscheidung bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen.
Vielleicht schwebte Rainer Maria Rilke ähnliches vor, als er in seiner ersten Duineser Elegie schrieb:
„Ist es nicht Zeit, dass wir liebend uns vom Geliebten befreien und es bebend bestehen Wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn: Bleiben es nirgends.“
2. Der Ort schwuler Beziehungen
Dass sich zwei Männern als ein Paar erleben können und vor allem von ihrer Umwelt auch als ein solches wahrgenommen werden, ist ein relativ neues Phänomen. Vielleicht hat es so etwas schon bei römischen Kaisern gegeben, aber hier soll keine Stellung im Streit der Historiker bezogen werden. Wenn es das gab, dann betraf es auf jeden Fall nur Einzelne, während heute eine Paarbeziehung prinzipiell für alle Schwulen offen steht. Um die Bedeutung dessen besser zu verstehen, soll in einem groben Überblick seine Entwicklung nachgezeichnet werden und es wird gefragt, ob, und wenn ja wo, sich ein Männerpaar