Unwiederbringlich. Thomas Häring
Ehe war ihr da Warnung genug. Doch mit der Zeit begann sie sich zu langweilen und zu überlegen, ob sie ihr ganzes Leben lang den Leuten Getränke und Speisen servieren oder am Ende gar als Saftschubse im Flugzeug herumwackeln wollte. Irgendetwas tief in ihr verlangte nach mehr und dabei handelte es sich keineswegs um einen kleinen Fötus, der sich da gerade im Mutterleib bildete. Sie sah die Frauen mit ihren quengelnden Kindern und wußte ganz genau, daß ihr Weg ein völlig anderer sein würde, was sie ungemein beruhigte. An die Age verschwendete sie keine Gedanken mehr, sie war heilfroh darüber, sich aus deren Klauen befreit zu haben, denn sie wußte selbst am allerbesten, was Abhängigkeit eigentlich bedeutete. Wieder einmal hatte sie in die Spur zurückgefunden und war nun dazu bereit, etwas zu riskieren. Als DJane begann sie aufzutreten und da sie von Musik wirklich Ahnung hatte, klappte das von Anfang an recht gut. Die Leute feierten ab, wenn sie auflegte und so machte sie sich in der Szene einen Namen. Dann kam der Tag, an dem sie Dirk kennen lernte und der wich ihr nicht mehr von der Seite. Er war ein cooler Typ und sie mochte ihn, allerdings hatte sie das ungute Gefühl, daß der Kerl ein kleines bißchen größenwahnsinnig war. „Also ich finde Deine Idee mit dem Festival ja gut, aber ich glaube kaum, daß sich das finanziell rechnet“, gab Jessica zu, als sie mal wieder mit ihm in einer Kneipe saß. „Das ist alles überhaupt kein Problem und genau durchgerechnet. Am ersten Abend spielen die Bands, die aus der Region kommen und mit den Einnahmen davon finanzieren wir den Headliner, der dann am darauf folgenden Abend auftritt“, erläuterte der Konzertveranstalter in spe. „Das haut doch nie und nimmer hin. Du weißt schließlich überhaupt nicht, wie hoch die Einnahmen am ersten Abend sein werden.“ Er schaute ihr tief in die Augen, nahm einen Schluck aus seinem Glas und sprach dann die entscheidenden Worte: „Vertrau mir! Ich weiß ganz genau was ich tue.“ Sie aber zweifelte nach wie vor, was ihn mit der Zeit immer mehr nervte, denn er selbst war auch nicht wirklich überzeugt von seinem Plan, doch das hätte er nie im Leben freiwillig zugegeben. „Also ich finde, das Ganze ist eine ziemlich riskante Angelegenheit. Vielleicht solltest Du Dich an Leute wenden, die etwas mehr Ahnung davon haben.“ Schön langsam wurde Dirk sauer. „Weißt Du, bislang habe ich immer geglaubt, daß Du cool und mutig wärst, aber jetzt stellt sich auf einmal heraus, daß Du eine ganz feige Henne bist, die nichts riskiert und lieber in ihrem verschissenen Käfig bleibt, anstatt mal ein richtig großes Ei zu legen!“ platzte es aus ihm heraus. Das saß. Er hatte bei ihr einen Nerv getroffen und so beschloß sie an jenem Abend, das Projekt mit ihm gemeinsam anzugehen. Was konnte schon dabei passieren? Sie feierten ihre Versöhnung, tranken noch reichlich Alkohol und in ihrer Wohnung ging es dann weiter mit der Vereinigung. Am nächsten Morgen hatten die Beiden einen Kater ... gesehen, der auf ihrer Fensterbank saß und ihnen vielleicht sogar in der Nacht zugeschaut hatte, der Vöglerbeobachter.
Der Philosoph schrieb wie ein Besessener, denn er hatte das motivierende Gefühl, der Menschheit etwas mitteilen zu müssen. Seine Putzfrau fand das alles ein wenig merkwürdig, denn sie hatte ihn eigentlich immer nur herumsitzen und nachdenken sehen, irgendwie hatte sie es nie für möglich gehalten gehabt, daß der Kerl für irgendetwas zu gebrauchen war. Zugegeben, auch die Schreiberlinge erfreuten sich in Deutschland nicht gerade eines sonderlich hohen Ansehens, aber im Gegensatz zu den Philosophen begegnete man ihnen doch mit einer gewissen Achtung, wohingegen Besagte nur mit Verachtung, Spott sowie belächelt werden zu rechnen hatten. Da saß er nun, der arme Tor und fügte ein Wort an das nächste, immer in der Hoffnung, auf diese Art und Weise zur Ruhe zu gelangen und womöglich gar die Erleuchtung zu finden. Er textete: „Die Menschheit als Gesamtkonstrukt strebt nach Perfektion und Erleuchtung, doch um in ungeahnte Höhen gelangen zu können, muß man zunächst Ballast abwerfen. In all den Jahrzehnten hat sich ziemlich viel Menschenmüll angesammelt, welcher verhindert, daß die fähigen und intelligenten Leute sich unheimlich schnell weiterentwickeln. Immer muß Rücksicht auf die Kranken, Schwachen, Behinderten und Alten genommen werden, was dazu führt, daß die Leistungsträger gebremst sowie blockiert werden. Wie kann man dafür sorgen, daß dem ein Riegel vorgeschoben wird? Ganz einfach: Indem man die Überflüssigen aussondert und eliminiert. Das mag brutal und rücksichtslos klingen, aber es führt kein Weg daran vorbei, denn die Asozialen und ihre Brüder und Schwestern im Geiste stehen einer Veredelung der menschlichen Rasse im Wege, sie sorgen vielmehr für eine Verelendung, die ihresgleichen sucht. Es kann nicht länger nur darum gehen, die Sozialfälle durchzufüttern und ihr Dahinsiechen zu verlängern. Wir brauchen einen neuen Gedankenkonsens in der Gesellschaft, der dieses ewige Bemitleiden und Mitfühlen beendet und sich auf das Wesentliche konzentriert. Es muß Schluß sein mit der Durchfütterung der Mitesser und Schmarotzer! Die verursachen nämlich nur Kosten und leisten nichts, was dem Fortschritt der Menschheit dient. Sie sind den Eliten im Wege und deshalb muß man endlich damit aufhören, das Elend und Leiden zu verlängern, sondern drastische Maßnahmen ergreifen, welche zu einer Säuberung und Verfeinerung des Menschengeschlechts führen werden. Wir haben viel zu viele Leute auf diesem Planeten, das steht zweifellos außer Frage, Qualität statt Quantität sollte das Motto der Zukunft lauten.“ An seinen Sätzen konnte man erkennen, daß der Philosoph wieder ganz der Alte geworden war und tatsächlich zu seinen Wurzeln zurückgekehrt war. So radikal seine Ansichten auch sein mochten, sie entbehrten nicht einer gewissen Logik und das war es schon seit jeher gewesen, was seine Gegner und Kritiker am meisten erzürnt hatte. Dennoch mußte man ihm zugute halten, daß er im Vergleich zu seiner wilden Sturm und Drang Zeit doch relativ zurückhaltend geworden war, auch wenn sich das vielleicht erst einmal nicht so anhörte. Wer jedoch seine frühen Schriften gelesen hatte, in denen er behauptet hatte, daß im Grunde 50 Prozent der Menschen zum Wohle der gesamten restlichen Menschheit ins Gras beißen sollten, weil sie für den Planeten und seine anderen Bewohner eine Zumutung darstellten, der konnte schon erkennen, daß die Altersweisheit auch beim Philosophen Einzug gehalten und einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Sein Denken war ausgereifter geworden und wer ihm vorwarf, immer noch ein Menschenfeind zu sein, der sollte darauf aufmerksam gemacht werden, woher der Mann damals kam, von daher war auch im Denken des Philosophen durchaus ein Fortschritt sowie eine Weiterentwicklung erkennbar. Wohin das Ganze noch führen sollte, war eine völlig andere Frage, die man nicht wirklich beantworten konnte. Fakt war allerdings, daß der gute Mann endlich wieder einen Sinn in seinem Leben gefunden hatte und das war erfreulich.
Senta hatte sich vor der Age relativ gemütlich eingerichtet und alle Versuche der dortigen Mitarbeiter, sie zu vertreiben oder wegzuekeln, hatten nicht gefruchtet. Ganz im Gegenteil, mit der Zeit hatten sich sogar etliche Arbeitslose mit der Frau solidarisiert, weil sie das Gefühl hatten, daß jene genauso schlecht behandelt wurde wie sie selbst. Damit war der Schuß der Fallmanagerin in gewisser Weise nach hinten losgegangen, doch das kannte jene schon aus ihrer Vergangenheit. Senta dagegen faßte langsam Fuß und kam mit immer mehr Menschen ins Gespräch, welche oft sehr froh darüber waren, gleich nach dem Termin in der Agentur mit jemandem über ihr Erleben im Amt reden zu können. Die Weintolligin hörte sich das ganze Lamento und Gejammer geduldig an, sie bekam immer mehr einen Eindruck davon, wie schrecklich es in jenem Gebäude sein mußte und irgendwann hatte sie die Ohren und die Schnauze dermaßen gestrichen voll, daß sie beschloß, daß man dagegen etwas unternehmen müsse. Ihr Vorgesetzter bei Weintolligy sah das etwas anders. „Du sollst hier nicht einen auf Robina Hood machen, sondern uns Menschenmaterial zuführen, hast Du verstanden?“ versuchte er ihr einzubleuen. „Aber die Zustände dort sind unerträglich. Das ist fast so schlimm wie ein KZ“, hielt Senta dagegen. „Also hör mal, ich weiß ja selbst, daß wir Weintolligen sehr gerne Vergleiche mit dem Dritten Reich hernehmen, wenn es darum geht, den Leuten zu zeigen, wie sehr wir diskriminiert und unterdrückt werden, aber dieser Vergleich hinkt noch mehr als Propagandaminister Goebbels und das sage ich als jemand, der von Propaganda jede Menge versteht. Du sollst hier nicht die Linkspartei links überholen, sondern dafür sorgen, daß wir neue Mitglieder finden, welche wir auf den Weg unserer Wahrheit führen können. Ist das klar?“ Senta nickte verstört und beschloß in jenem Augenblick, ihrer Glaubensgemeinschaft ein für allemal den Rücken zu kehren, denn nun hatte sie endgültig erkannt, daß sich die Leute dort kein bißchen für die Welt da draußen, sondern nur für sich selbst, ihre eigenen Interessen und ihre eigene Sekte interessierten. Freunde redeten ja gerne hinter dem Rücken des jeweils Anderen schlecht übereinander, da sie ja auch die Schwächen und Fehler jener Person nur allzu gut kannten, aber was bei Weintolligy abging, das spottete jeder Beschreibung. Sobald man versuchte, die Organisation zu verlassen, wurde man überwacht, erhielt Drohanrufe und wurde